Sonntag, 1. Juli 2018

Erlesene Musik.


Im elterlichen Haushalt meiner Kindheit gab es keine Jazzplatten; nur die nach streng deutschtümelnden Kriterien ausgewählte Klassikschallplatten-Sammlung meines verstorbenen Großvaters und eine kleine Selektion der damals populären Tonträger von Nana Mouskouri bis hin zu Reinhard Mey.

Aber: Es gab zwei Jazzbücher von Joachim-Ernst Behrendt und weil ich sowieso alles aus der Bibliothek meines Papas las (das Erlaubte und auch das Verbotene) fielen die mir irgendwann in die Hand – mein Vater muss wohl in seiner Jugend mal eine Phase gehabt haben, in der ihn Jazz interessierte.


So also studierte ich aus Neugier diese zerlesenen, vergilbten Taschenbücher, vor allem die aussagekräftigen Schwarz-Weiß-Fotos und versuchte mir auszumalen, wie “Jazz” denn so klingen würde. Dazu stellte ich mir vor, ich würde in einer Art “Loft” an einem grauen Regentag in ein Saxophon blasen. Interessant, wie sich ohne die geringste Ahnung dieses Genres trotzdem bereits ein erstes Klischee in meine juvenile Fantasie eingeschlichen hatte.

Später dann – ich besuchte die Musikhauptschule Ferdinandeum mitten in Graz – gab es in der Nähe des Schulgebäudes ein Geschäft namens “Hannibal”, an welchem ich mir so oft wie möglich die Nase an den Auslagen plattdrückte. Die dort ausgestellten Schallplatten und Bücher ließen meine Vorstellungswelt wild rotieren. Und ohne es zu wissen, war ich damit auch bereits Teil der ersten Retro-Welle; denn der “Hannibal” führte damals natürlich keinen aktuellen 80ies-Pop, sondern huldigte dem guten, alten “Rock” der 1960er- und 70er-Jahre.

Der legendäre Schriftzug hat überlebt! (Photo von www.hannibal-verlag.de)

Als ich mich dann endlich mal in das Geschäft hineintraute (und daraufhin zu einer Art Stammgast wurde) öffneten sich weitere, magische Tore – mit einem regelmäßig erscheinenden Katalog und einem Verkäufer, der mich aufgrund seines legendären Aussehens unglaublich beeindruckte.

Dieser damalige Hannibal-Mitarbeiter mit dem Spitznamen “Shugle” wird das vermutlich niemals erfahren, aber er hat meinen Musikgeschmack entscheidend geprägt. Trotz seiner eher grimmig erscheinenden Art und seines wilden Aussehens (lange Haare!) ließ er hin und wieder einen Tipp oder Hinweis fallen, den ich als Schulbub begierig aufsaugte.


Und der Katalog: ein kleines, dickes, in der billigen Art der Fanzines gedrucktes Elaborat, vollgestopft mit Plattenkritiken und kaum erkennbaren, winzigen Fotos der jeweiligen Releases. Dies wurde meine Bibel; diese kleinen, unregelmäßig erscheinenden Hefte wurden meine ständigen Begleiter. Sie befeuerten meine Fantasie mit blumigen Beschreibungen von höchst legendären Platten, die ich am liebsten alle besessen hätte, aber mir sowieso nicht leisten konnte mit meinem knapp bemessenen Taschengeld.

Die heftigste und intensivste Musik-Lese-Phase kam dann aber mit der Entdeckung der rororo-Taschenbuchreihe “Rock Session” – eine dieser Ausgaben entdeckte ich auf einem Ständer beim Ausgang eines meiner inzwischen ebenfalls regelmäßig frequentierten Buchgeschäfte. Meine Taschenbuch-Erwerbungen waren zu der Zeit ja eher billige Tie-ins damals populärer TV-Serien wie “Kampfstern Galactica” oder “Knight Rider”, obwohl ich mir damals auch schon meine erste Beatles-Biographie gekauft hatte (es sollten noch sehr viele folgen).

Erste selbstgekaufte Beatles-Biographie.
Diese “rororo Rocksession”- Bücher, die waren ein ganz anderes Kaliber – vollgestopft mit Artikeln zur musikalischen “Gegenkultur”, aber nicht nur zur amerikanischen, sondern auch zu der aus Deutschland. Krautrock? Ein neues faszinierendes Betätigungsfeld für meine Fantasie. Und wieder taten auch die entsprechenden Fotos ihren Teil: Aufnahmen früher Performances von sehr ernst dreinschauenden Herren mit randlosen Brillen, Bärten und sehr langen Haaren, die an riesigen Synthesizer-Türmen herumschraubten, wurden für mich sofort zum Synonym für “Science-Fiction-Musik”, wie ich sie mir selber erdacht hatte.

Tangerine Dream & Gear (Photo von www1.wdr.de)
Am schlimmsten aber war der Virus, der mich mit dem Thema “mysteriös aus dem Leben geschiedene Rockstars” infizierte – dieses guilty pleasure bringt mein Blut seit damals regelmäßig in Wallung und wird mich wohl bis zu meinem eigenen (hoffentlich nicht zu mysteriösen) Abgang aus dieser Welt begleiten.


Um “Fakten” ging es beim Thema Tote Rockstars nie – gerade die Rocksession-Bücher sind in heutigen Zeiten betrachtet eine wahre Katastrophe, was genaue Recherche betrifft. Es gab natürlich kein Internet, also verbreiteten sich eben urbane Legenden als einzige Information.

Der Sarg, der beim Begräbnis des Doors-Sängers Jim Morrison in Paris sichtbar zu kurz war, um dessen Leiche wirklich enthalten zu können. Jimi Hendrix, der nach einer Überdosis Schlaftabletten im Rettungswagen so lange (und scheinbar ziellos) herumgeführt wurde, bis alle Reanimationsversuche umsonst waren. Der angebliche Unfalltod Paul McCartneys in den 60ern, die Vertuschung dessen durch einen bezahlten Schauspieler, der McCartneys Platz einnahm und die bizarren Schuldeingeständnisse der restlichen Beatles via Botschaften auf den Covern ihrer Alben (Diese Death Clues beschäftigen mich aufgrund ihrer schillernden Absurdität ebenfalls noch immer ¹).

Joe Meek (Photo von www.independent.co.uk)
Und der Musikproduzent Joe Meek! Dieser außergewöhnliche Wahnsinnige, der gleichzeitig ein genialer Tüftler war (er erfand quasi im Alleingang bis heute essentielle Audio-Effekte wie Kompression und konstruierte primitive Hallgeräte), einen Riesenhit mit der Produktion von “Telstar” hatte und dann aber sofort in der Obskurität verschwand. Er wurde so paranoid, dass er nur mehr über kleine, vollgeschmierte Zettelchen kommunizierte (er war der festen Überzeugung, dass große Plattenstudios seine selbstgebauten Effektgeräte ausspionierten). Am Todestag seines über alles verehrten und durch einen Flugzeugabsturz aus dem Leben geschiedenen Idols Buddy Holly erschoss er sich – und seine Vermieterin gleich mit.


Ich schlief kaum noch, in der Nacht las ich unter der Bettdecke mit der Taschenlampe, mit einer Mischung aus unglaublicher Faszination und auch ein bisschen Angst vor diesem dunklen, ja letalen Universum, welches sich da aufgetan hatte.

Viele Jahrzehnte später haben mich diese frühen Aufreger irgendwie noch immer nicht verlassen – ich kenne inzwischen logischerweise jede Art von damals beschriebener Musik, habe unfassbar geniale Entdeckungen gemacht, muss aber gestehen, das ich noch immer sehr gerne von Musik lesen würde, die ich noch nicht kenne. Das aber ist nicht mehr so einfach möglich, weil man viel zu sehr mit der nächsten Retro-Welle beschäftigt ist (siehe oben) und weil… es nichts mehr Neues zu erfinden gibt? Das wäre definitiv mal ein Thema für einen Artikel hier.

Der Hannibal-Verlag, der hat mich noch viele Jahre weiter begleitet (als Buchverlag existiert er auch heute noch) - mit den besten deutschen Übersetzungen amerikanischer Musikliteratur, die man hierzulande lesen kann. Und auch solche Plattenkataloge kann man noch finden; zumindest bei einer genialen Kette von Musikshops, die es leider nur im guten alten Amerika gibt – dem AMOEBA MUSIC. Falls ihr jemals in San Francisco oder Los Angeles seid, unbedingt besuchen! Und nicht vergessen, den (kostenlosen) Katalog mitzunehmen.

Der Amoeba-Katalog (Leihgabe von Frau Dr. Nachtstrom)

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¹ Absolut empfehlenswerter Lesestoff: "The Walrus Was Paul: The Great Beatle Death Clues" von R. Gary Patterson!

2 Kommentare:

  1. @rvn: Herzlichen Dank! @⅁₹ĚΨђƱПƚΞЯ: ich glaub, "Tuned-In: The Paranormal World of Music" werd ich mir zulegen :) herzliche grüße, doc

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