Sonntag, 20. Mai 2018

George Clanton, King of Vaporwave.

Outsider Music, das definiere ich auf diesem Blog ja keinesfalls mit amateurhaft oder belustigend, sondern als Kunstform, die sich wenig oder gar nicht um traditionelle Rezepte oder Vermarktungswege schert. Es gab sie immer und wird sie immer geben, die Persönlichkeiten, die ihre ganz eigene Vision von “Musik” erfinden und damit mein ewig neugieriges Ohr und Herz erfreuen.

Die legendären Outsider-Musiker sind ja (zumindest den wahren Afficionados) sattsam bekannt: Jandek, der Legendary Stardust Cowboy, Daniel Johnston, Wesley Willis und Wild Man Fischer (beide schon verstorben), The Shaggs - die Liste liesse sich endlos weiterführen.


Der Musikjournalist von heute darf freilich niemals müde werden, auch in neuen, unbekannten Genres oder Subgenres nach den wahren Schätzen zu suchen. Nehmen wir zum Beispiel Vaporwave - eine (im Gegensatz zu etablierten Genreschubladen) relativ neue, fast zur Gänze in der Virtualität stattfindende Bewegung; noch dazu eine, denen Traditionalisten und Ewiggestrige gerne die Existenzberechtung absprechen.

Ganz schneller Crashkurs in Sachen Vaporwave: “Vaporwave is a microgenre of electronic music and an Internet meme that emerged in the early 2010s. The style is defined by its appropriation of 1980s and 1990s mood music styles such as smooth jazz, elevator music, R&B, and lounge music, typically sampling or manipulating tracks via chopped and screwed techniques and other effects. Its surrounding subculture is sometimes associated with an ambiguous or satirical take on consumer capitalism and popular culture, and tends to be characterized by a nostalgic or surrealist engagement with the popular entertainment, technology and advertising of previous decades. It also incorporates early Internet imagery, late 1990s web design, glitch art, anime, 3D-rendered objects, and cyberpunk tropes in its cover artwork and music videos.” ¹


Schwierig bei der analytischen Einordnung des Genres ist, daß Vaporwave nicht aus sich selbst, sondern als Serie ironisch gemeinter Memes als Reaktion auf Synthwave entstanden ist - ebenfalls ein relativ neues Genre, das sich seit einigen Jahren recht erfolgreich der nostalgischen Verwurstung schlimmster US-80er-Jahre-Klischees widmet und diese als Kunstform zur nostalgischen Rückschau erhebt. Der Sarkasmus, der Vaporwave am Beginn prägte, ist heute weitgehendst verschwunden; die eingebildete analoge Wärme von Synthwave verwandelt sich dort allerdings weiterhin in klirrende Kälte.

In diesem Sinn ist Vaporwave (so wie Cloud rap) ein ziemlich ernüchternder Spiegel unserer Zeit - das Genre wird am Leben erhalten von sich hinter nichtssagenden oder bewusst irreführenden Avataren versteckenden Nonames, Kommunikation oder Anerkennung zwischen den diversen Protagonisten besteht selten bis gar nicht. Lieber werkelt man, vollgepumpt mit Xanax, Weed, und Alkohol an seinem privaten Eskaspimus und nimmt niemals, niemals die Kopfhörer ab. Eine glitzernd wirkende, aber lebensfeindliche und höchst instabile Welt, die durchaus ihre Reize hat.

Foto von nosmokingmedia.com
Und gerade hier gibt es unglaubliche Individualisten zu entdecken. George Clanton zum Beispiel, der mich in seiner komplexen Multidimensionaliät (wechselnde Rollen, Output) ein wenig an den hier sehr verehrten Danny Wolfers (Legowelt) erinnert. Der Unterschied: Wolfers scheint ein freundlicher, harmonischer Mensch zu sein, Clanton eher ein unzugänglich wirkender, verbissener Schichtarbeiter, hermetisch hinter seinen selbst gewählten Masken versteckt; seine Performances manchmal stark an der Grenze des Unerträglichen.

George Clanton würde das vermutlich anders sehen, der ist gut eingesponnen im Kokon seiner selbst ausgedachten Fantasiewelt, die zu großen Teilen aus den oben beschriebenen Vaporwave-Elementen besteht. Ein super-konsequenter Nerd, der sein Ding macht. Entgegen der wenigen Interviews, in denen er hauptsächlich von Geld, Erfolg und Erfolgsdruck spricht meine ich doch gerade bei den Live-Performances die darunterliegende Leidenschaft zu erkennen, die ihn anzutreiben scheint wie ein Perpetuum Mobile, auch wenn das möglicherweise(?) eine eher schmerzvolle Form von Lust sein könnte.

Foto von facebook.com/mirrorkisses
100% Electronica, so hieß sein Erfolgsalbum, danach hat er gleich auch sein eigenes Label unter dem gleichen Namen gegründet. Hier vertreibt er seine eigenen Pseudonyme, seine Freundin Negative Gemini und ein paar wirkliche Obskuritäten wie das deutsche Duo Peter Mergener und Michael Weisser, die in den 1980er-Jahren unter dem (damals noch hochoriginellen) Namen SOFTWARE ein paar Platten aufgenommen haben.

Als Rapper halte ich ihn definitiv nicht aus, aber ich liebe Clanton unter seinem Pseudonym ESPRIT 空想 - wie er hier Samples und Teile diverser bekannter und eher unbekannter 1980er-Pop-Acts auseinandernimmt, herunterpitcht, effektiert und in seinem Roland SH404 (hätte ich auch gern, leider extrem teuer) neu zum eigenen Vaporwave-Soundtrack zusammensetzt, das kann wirklich was. George Clanton muss man nicht sympathisch finden, innerhalb seines kleinen Reichs aber ist er für mich der König.

***

¹ zitiert von https://en.wikipedia.org/wiki/Vaporwave


Der Meister im Livestream. ESPRIT 空想 takes his chair at 4:44
 

Freitag, 18. Mai 2018

Explorers_We.

In den gelobten 1990er-Jahren hatte ich einige musikalische Schocks. Gesunde Schocks, wohlgemerkt, die meinen musikalischen Geschmack verbogen haben wie Uri Geller früher mal seine Gabeln.


Zum Beispiel entdeckte ich Computermusik. Und Noise. Und die geniale Verbindung von beidem, Computer-Krach also. Das damals sehr angesagte Label in Erdberg, Wien hieß Mego und nannte seine Musik neckisch “Third Vienna School”, also in der direkten Nachfolge von Schönberg, Berg und Webern.

Vieles dieses ehrgeizigen Vorhabens erwies sich letztendlich als leere Versprechung. Andererseits: Russell Haswell, Florian Hecker, Peter Rehberg, Fennesz, Francisco Lopez - diese damals zum ersten Mal gehörten Künstler sind für mich heute noch genauso relevant und werden es auch immer bleiben.


Naja, und dann gab es auf Mego natürlich farmersmanual. Die haben mich gleich mit ihrem ersten Release zum lebenslangen Fan gemacht. Die Musik: unbeschreiblich. Das Image von denen: Ein Nerdtraum.

Ich glaube, ich muß ein wenig ausholen: Die Schublade, die ich mir selbst für farmersmanual ausdachte, habe ich Glitch Punk genannt. Wenn ein Computerprogramm aufgrund diverser Befehle anfängt, irgendwelche musikalischen Parameter herunterzunudeln, dann sind Fehler vorprogrammiert - es wäre dann der Job findiger Programmierer, das zu optimieren. Nicht so farmersmanual. Diese Jungs würden eher mit grosser Begeisterung Piezomikrofone in die Hardware geklebt haben und hätten den digitalen Salat dann so lange aufgenommen, bis das sich selbst zu Tode marternde Gerät in einem grossen Feuerball explodiert wäre.


Und dann das Image: Es gab keines. Wer sich konzentrierte, über ihre Laptops gebeugte Maschinisten vorstellte, war zumindest bei einem oder zwei ihrer legendären Konzerte sehr irritiert. Die jungen Herrschaften dachten nicht daran, sich wie “professionelle Musiker” zu verhalten. Manchmal wurden die Computer eingeschaltet und spielten dann alleine vor einem Publikum, welches sich nicht sicher war, wie es sich verhalten sollte. Manchmal fiel während der Performance auch einer von den farmers betrunken vom Sessel oder schlief einfach ein.

So ganz klar war ja auch nie, wer da jetzt eigentlich dazugehört. War das ein Kollektiv? Journalisten hatten es wohl ebenfalls nicht leicht, weil farmersmanual meistens einfach nichts zu sagen hatten. Die starrten lieber betreten auf ihre Sneakers und schwiegen. Der Legende nach war sogar der damals wie ein Gott verehrte Richard D. James aka Aphex Twin einmal backstage, und auch da wusste niemand was zu sagen.


farmersmanual gibt es immer noch, oder wieder - irgendwie. In immer wechselnden Besetzungen werden manchmal riesige Installationen bespielt, und auch auf Bandcamp erscheinen in aufreizender Langsamkeit diverse Werke; wobei man nie sagen kann, ob da als nächstes ein dreistündiges Mammutwerk oder ein zweiminütiger Loop zu erwarten sein wird.

***

Wenn ich einen Lieblings-Release festmachen müsste von farmersmanual, ich würde definitiv Explorers_We auswählen. Das 1998 erschienene Werk ist für mich nämlich das ultimative farmers-Buffet: Die Plunderphonics-Techniken des kanadischen Aktivisten, Komponisten und Tänzers John Oswald sind da ein guter Startpunkt, ebenso die strengen, kalten CD-Glitches von Oval. Das alles aber nur als unzulängliche Wegweiser, denn die vorbeisausenden Soundfetzen von Explorers_We, die sich schockartig zu überquellender Soundlava verdichten, nur um dann blitzschnell wieder in einem Spiegelsaal voll eiskalter Halleffekte zu verschwinden, sind irgendwie nicht festzumachen, entziehen sich der Analyse. Soviel ist sicher: Das äußerst irritierte Gehirn versucht sich tapfer, seinen Weg zu bahnen und wenigstens irgendeine Form zu erkennen. So entsteht dann in der Erinnerung eine neue Art von Musik, die so niemals stattgefunden hat.

Sean Cooper hat das damals auf AllmusicReview sehr schön in Worte gefasst: “If exploiting the microscopic compositional possibilities enabled by digital recording and editing technologies can be considered a distinct new genre, then Explorers_We is its first masterpiece. At first blush formless and chaotic, the CD's hour-plus collage of vocal bits, sound bytes, and fractured song fragments begins gradually to cohere into something remarkable and seductive. farmersmanual write songs like frozen juice containers-concentrated, and requiring a bit of elbow work. But once the right ratio of ideation and assent has been found, Explorers_We is a true delight.” ¹

Ach, wie oft habe ich mir mit diesen wilden Sounds im Minidiscplayer die Ohren blutig gehört, mit stundenlangem Tinnitus danach. Explorers_We ist das auch wirklich wert.

Mit großer Freude habe ich kürzlich vernommen, daß dieses für mich absolut ikonische Werk bereits auf Bandcamp erhältlich ist. Was für eine Gelegenheit, sich diesem widerborstigen Klassiker aufs Neue zu stellen! Lass dir das nicht entgehen.



***

Die Kommunikationsunlust (was für ein Wort!) von farmersmanual ist, wie bereits beschrieben, Legende. Tapfer hab ich es trotzdem versucht, anlässlich der VÖ eine Art Statement von irgendwem aus der “Band” zu bekommen. Geantwortet hat mir V93r - hier also als Abschluß ein kleines Mailinterview: 

Hallo v93r, finde ich ja extrem lässig, das ihr Explorers_We wiederveröffentlicht. Gabs dazu einen aktuellen Anlass?

Jein. Sämtliche Farmersarbeit ist stets anlaßbedingt. Nur lassen sich diese Anlässe schwer planen. Gevatter Zufall ist bei farmersmanual ein sehr gern gesehener Genosse. 

farmersmanual spielt ja hin und wieder noch immer Konzerte - wird das im Kollektiv entschieden, wo und wie oder macht das gerade derjenige, der gerade Zeit und Lust hat von euch? Ich habe ja gehört, das es auch schon Soloperfomances gegeben hat unter eurem Namen…

Nachdem wir ja nie nach Auftrittsmöglichkeiten gefragt haben, freuen wir uns, daß wir wieder für Auftritte angefragt werden. Entscheidungen treffen entweder alle (je nachdem) gemeinsam, oder derjenige, der gerade Zeit oder Lust hat. Oder niemand. Die Teilnahme im Kollektiv steht jedem frei, der sich gekonnt einzubringen mag, und sympathisch ist. Den Namen werden wir jedoch nicht mehr ändern (zu faul). 

Welche Pläne gibt es für die Zukunft?

Es gibt definitiv ein Konzert in London im Juli dieses Jahres in einem Ausgleichsbehälter des ältesten Themse-Tunnels, dem Brunel-Shaft. Was dort passieren wird, diskutieren wir noch ab- & zu, wahrscheinlich auch noch bis zum Tag des Gigs. Wir möchten den Raum ausloten. Der Gig wird traditionell hinterher released werden.

Danach möchten wir wandern gehen, und farmersmanual Hüttengaudis “am Berg oben” vollbringen. Die erste avisierte Hütte dazu ist die Speiereckhütte im Lungau, betrieben vom Szene-Gastronom Leonhard Minutillo. Super Aussicht, Bergschuhe haben wir schon. 

Wird es wieder einen neuen Studiorelease geben? Oder weitere Veröffentlichungen von Konzerten?

Einen Studio-Release soll es anscheinend auch geben, auf dem Mego Label Successor Editions Mego. Wir überlegen aber noch (jeder für sich, gemeinsam, oder auch gar nicht), wie wir das avisierte Retro-Format Vinyl am besten pervertieren können, bzw. die Entstehung des Releases zu einem anlaßbedingten zeitlich ausgedehnten Event machen können. Am besten mit Freunden, gutem Essen und viel Spaß. Dings, wirf Anlaß vom Himmel, Danke.

***

¹ zitiert von https://www.allmusic.com/album/explorers-we-mw0000768368

farmersmanual bandcamp

farmersmanual facebook


Montag, 14. Mai 2018

Geistergesänge.


In “Supergod”, einem meiner allerliebsten Comics von Warren Ellis, infizieren sich drei Astronauten bei einer Geheimmission im All mit einem Virus from Outer Space. Der entpuppt sich als ausserirdische Lebensform, die die Zurückgekehrten mittels einer Pilzkultur in ein dreiköpfiges Wesen zusammenformt, einen Alien-Gott, der seine - sexuelle Extase und Wahnsinn auslösenden Botschaften - zwischendurch auch gerne mal mittels Gesang oder musikalischen Klängen kommuniziert.

Solche “Geistergesänge” als mögliche Kommunikationsform faszinierten nicht nur Hollywood (man denke nur an Steven Spielbergs Close Encounters of the Third Kind), sondern auch euren Bloghost, der unter anderem auch aus diesem Grund sein Blog so benannt hat.


Musik aus dem Jenseits oder einer anderen Dimension - was spannenderes gibt es nicht für mich. So wie zum Beispiel die “Geisterchöre”, die der Italiener Marcello Bacci seinen alten Radioapparaten entlockt hat. Der inzwischen 91-jährige Experimentator wurde 1949 anlässlich einer Seance mit dem “Geisterstimmen-Virus” infiziert und hat bis vor einigen Jahren noch monatliche Sessions abgehalten, um seinen Kunden Kontakt zu ihren verstorbenen Angehörigen zu ermöglichen. “Kunden” ist vielleicht nicht das richtige Wort, denn Bacci soll laut seriösen Aussagen vieler Zeugen niemals Geld für seine Vermittler-Tätigkeit genommen haben.

Marcello Bacci an seinem "Arbeitsgerät"(Photo von histoires-paranormales.fr)
Technisch blieb Bacci immer den alten Zeiten treu, frei nach dem Motto “Never change a running System” - die spektakulärsten Ergebnisse seiner Sitzungen wurden mit einem uralten Nordmende-Radio, einem Mikrofon und einem Kassettenrecorder produziert. Wir wissen natürlich, das weder die Existenz von “Geistern” oder Informationen über ein mögliches Leben nach dem Tod auch nur einigermaßen glaubhaft beweisbar sind; aber nur mal angenommen, der gute Herr Bacci hat nicht über unzählige Jahrzehnte aufwendige Fakes produziert - da fragt man sich natürlich schon, WER oder WAS da aus seinen Radioapparaten spricht. Oder singt.

In his experiments, Bacci tunes his radio to the short-wave band, in a frequency ranging between 7 and 9 MHz, in a zone clear from normal radio transmissions. After waiting for ten to twenty minutes the existing background noise disappears and a typical acoustic signal comes out of the loudspeaker, similar to an approaching wind vortex, repeated three or four times at short intervals. Silence then follows, at the end of which an invisible speaker starts to communicate by establishing with Bacci, or with the people attending the experiment, something like a dialogue.” ¹

Auf der wunderbaren 3-CD-Box “Okkulte Stimmen - Mediale Musik. Recordings of unseen Intelligences 1905-2007”, erschienen im deutschen supposé Verlag, befinden sich neben vielen anderen paranormalen Schätzen auch zwei kleine Ausschnitte der andersweltlichen Chormusik, die Bacci zusammen mit anderen Experimentatoren im Jahr 1980 aufgenommen hat.


Das legendäre Industrial-Duo Coil war ja immer vorne mit dabei, wenn es darum ging, Audiotechnologie als Vehikel für die “Anderswelt” zu benutzen (über Time Machines habe ich hier bereits geschrieben). Imitten der für die Band hochkreativen und turbulenten 1990er-Jahre wurden Peter Christopherson und Jhonn Balance bei diversen Sessions auf merkwürdige Fehler (“Glitches”) aufmerksam, die in gewisser Regelmässigkeit das Equipment heimsuchten. Und Coil wären natürlich nicht Coil gewesen, hätten die beiden originellen Künstler diesen Vorgang nicht sofort personalisiert; als “ELpH”, eine Mischform aus Maschine und Geistwesen:

During the studio sessions that developed into what would become ‘Worship the Glitch’, Coil became aware of random compositions emitting from their gear, and were at odds with constant ‘accidents’ that were perpetually plaguing the recordings. The band called these unintentional emissions ‘ELpH’: a conceptual being that is one part physical equipment, one part celestial being… constantly playing the role of trickster, throwing a wrench into Coil’s methodology. Eventually, these accidents and mistakes were embraced by the band, and the process of misusing audio software to create intentional ‘errors’ was adopted as a musical technique. The acceptance of the ‘mistake’, and the use of discovered mistakes as intentional elements slowly became the drive and concept behind the album, thus birthing the title ‘Worship the Glitch.’” ²


Für mich persönlich waren Coil ganz großartige, bewundernswerte Spitzbuben, die ganz genau wussten, wie man seine Hörer und Fans in die richtige Stimmung bringt - mit mysteriösen, selbst erfundenen urbanen Legenden. Die wirken immer: “Worship the Glitch” mag von einem Geist stammen oder nicht, die Musik erzeugt auf jeden Fall ein sehr seltsames, unwirkliches Gefühl - und das auch ganz ohne bunte Pillen und 4/20-Technologie (Ersteres würde ich bei Coil-Sessions sowieso nur erfahrenen Psychonauten empfehlen).

Hier der erste Track von "Worship the Glitch", das Werk wird am 25.05. 2018 auf Bandcamp neu releast.



***

¹ zitiert von http://atransc.org/pressi-bacci/

² zitiert von https://www.daisrecords.com/products/elph-vs-coil-worship-the-glitch-cd-lp

“Worship the Glitch” erschien 1995 unter dem Bandnamen ELpH vs Coil. Es sollte noch angemerkt werden, das bereits ein Jahr zuvor die EP “Born Again Pagans” unter dem Bandnamen Coil vs ELpH erschienen ist. Dazu gibt es keine überlieferten Erklärungen, auf dem Original-Release befinden sich dafür so wunderbar rätselhafte Anmerkungen wie: “Patent Pending 184” bzw. "Taken from the forthcoming double compilation CD 'The Sound of Music' (Threshold House Records - Due Spring 1995)" - ein Release, den es natürlich niemals gegeben hat.

Donnerstag, 10. Mai 2018

Wo bist du, Bobby Brown?

Wenn die Gebrüder Grimm nicht im alten Deutschland vom Stechapfel-Tee bedröhnt auf das ganze Hexen- und Prinzessinen-Zeugs reingekippt wären, das ihnen die alten Mütterchen beim surrenden Spinnrad erzählten, sondern waschechte Stoner am Venice Beach CA; dann hätten sie vielleicht folgende Geschichte erfunden, die alle wunderbar nostalgischen Qualitäten eines Märchens hat, aber tatsächlich passiert ist.


Stell dir vor, du sitzt mit all diesen braungebrannten Surfer Dudes am Lagerfeuer am Strand. Die Sonne ist untergegangen, der Himmel ist violett und die Palmen haben diese großartige schwarze Patina (im Hintetgrund spielt jemand leise auf der Gitarre). Nachdem Schweigen eingekehrt ist und das Knacken der Holzscheite in Verbindung mit dem Rauschen der Wellen dich in entsprechende Stimmung versetzt hat, nimmt einer der älteren Surfer noch einmal einen tiefen Zug von einem fetten Bud und beginnt zu erzählen.



Es war einmal… in den frühen 1970er-Jahren, daß ein blonder Surfer Dude mit seinem alten, bunt bemalten VW-Bus an einem der vielen Sandstrände Südkaliforniens auftauchte. Auf den Bus geschnallt war natürlich sein schartiges Surfbrett, aber der Rest des klapprigen Gefährts war angestopft mit seltsamen Instrumentarium.

Aufschluß über diese Instrumente gab der blonde Mann im Jahr 1972 auf einem seiner (raren) Releases. In krakeliger Handschrift stand da auf der Rückseite der Platte: “About fifty homemade instruments designed to be as small as possible and placed on racks so as to be played from one spot(in a rotating, standing position) - styles of many countries were adapted - such as irish harp, koto, Drums, Thumb Piano, Flutes, Sitar and Dulcimer - there are 311 strings total - the key bass was adapted to be played by foot along with several other homemade foot instruments - the ability to make electric pick-ups from coils and computer parts was taught to me by Jon Lazell - Jon also allowed me to adapt some of his inventions & motivated me to invent some of my own - the result - ‘the Universal One Man Orchestra’, primitive, contemporary and futuristic.” ¹



Die Platte kostete 5 Dollar, enthielt den Hinweis “On Phonograph - adjust the treble up alot and the bass down a fair amoung (sic)” und noch viele andere schwer entzifferbare Botschaften. Heute ist sie ein gesuchtes Sammlerstück. Ihr Titel ist “The Enlightening Beam Of Axonda By Bobby Brown”, sie wurde 1972 aufgenommen und ja, der blonde Surfer hörte tatsächlich auf den Namen Bobby Brown.

Bobby Frank Brown, so (angeblich) sein voller Name, scheint in Sacramento geboren worden zu sein und war von den späten 1960er-Jahren bis noch in die 1980er auf diversen Stränden und Lokalen entlang der kalifornischen Westküste zu erleben. Das weiß man eher aus Überlieferungen von Leuten, die ihn damals erlebt haben, denn aus gesicherten Quellen - es scheint, als hätte der gute Mann schon damals in weiser Voraussicht diesen Namen gewählt. Versuch mal heutzutage, den auf Google zu finden! Wenn man statt dem unseligen Ehemann der verblichenen Whitney Houston wenigstens den Zappa’schen Bobby Brown findet, hat man schon Glück.


Heiliger Gral für Vinyl-Sammler: "The Enlightening Beam Of Axonda"
Dafür haben wir die Infos auf den paar wenigen Platten, die unser Bobby Brown aufgenommen hat. Vor allem auf “The Enlightening Beam Of Axonda”, welches so eine Art Science Fiction-Konzeptalbum darstellt: Ein Artikel auf Mutant Sounds beschreibt es so: “It's a concept album, relating the journey of a spiritual adept named Johnny from his pastoral Hawaiian home, across the globe and eventually into the cosmos. Johnny makes contact with the God-machine Axonda and its clear beam of consciousness light, which reveals to him the future of mankind — the reconciliation of all world religions and a merging into pure, perfected Godhead.

Brown's painstakingly scribed liner notes are [...] full of hilarious boasts about his explication of the fictional scientific concept of ‘the Bray’ — ‘an original contribution to the field of Religion & Science...not yet discovered by other humanoids’ that will one day ‘lead to the most significant change in the history of humanity (plus total religious unity).’" ²

Abgesehen von diesen doch recht originellen "Ankündigungen" ist es natürlich der Klang der selbstgebauten Instrumente (meist akustisch, obwohl hin und wieder auch ein primitiver Synthesizer und ein Theremin zu hören sind) der begeistert, und außerdem die vollkommen unvergleichliche Stimme. Die könnte man am besten als eine Mischung aus Don Van Vliet und dem rauchigen Vibrato eines Tim Buckley beschreiben; das muß man natürlich mögen, zumindest ist es eine Art von Gesang, die man heute definitiv so nicht mehr hört.


Das war es übrigens auch schon wieder mit als "gesichert geltenden autobiographischen Daten" zu Bobby Brown - eine handvoll Platten hat er aufgenommen, unzählige Konzerte gespielt und ist dann quasi wieder vom Radar verschwunden. Diverse Foren im Netz allerdings sind randvoll mit Erzählungen davon, wie er plötzlich da und dort aufgetaucht ist. Anscheinend hat er eine Zeit in Hawaii gelebt, aber auch dort scheint es den Nomaden nicht lange gehalten zu haben.

Auf dem bereits erwähnten Blog Mutant Sounds tauchte mitten in einer Diskussion um den aktuellen Verbleib des enigmatischen Künstlers im Februar 2012 plötzlich eine hochinteressante Message auf, die von Brown selber stammen könnte, erinnert sie in ihrer Schreibweise doch sehr an die Ramblings auf den Rückseiten seiner Platten.

Anonymous said…”Thanks for the wonderful comments posted here I just cried from reading one. Many stories to tell I've been traveling the world continued to perform an rebuild my instruments. I'm happy to report many of my predictions in particle physics have come true or at least possibly played a part in the evolution of string theory an much more. But I've went way beyond that an am anxious to share that. The label Drag City is distributing my Axonda an Prayers of a one man band album an. Cd very soon. An projects I've been workin on will gradually come out Someone may mention to the original writer of this blog to look an see how Many of the breakthrus in particle physics that I predicted have indeed come thru. An that words like psychological burn out an charlatan an crank scientist have hurt me an are not true. He is forgiven for the fruit of the commenters has yes made me cry.” 

¹ zitiert aus dem Eintrag bei Discogs.

² zitiert aus http://mutant-sounds.blogspot.co.at/2007/01/bobby-brown-1972-enlightening-beam-of.html

Ein interessantes Sammlerstück gibt es hier, samt angeblich authentischem Schriftverkehr mit dem Mann selbst, Bildern einer eigens kuratierten Ausstellung und ein paar Coverversionen. Allerdings streng limitiert und nur auf Audiokassette.

***


Dienstag, 8. Mai 2018

Venice Beach, Iron Butterfly und Albert Einstein.


Vor zwei Jahren habe ich eines meiner sehnlichsten Lebensziele verwirklicht: Dank der Initiative meiner lieben Frau bin ich endlich im Haight-Ashbury-Distrikt in San Francisco gestanden, genau dort, wo der “Summer of Love” passiert ist. Da erinnern noch diverse Plaketten an wichtige Stätten, zum Beispiel  die Free Medical Clinic, wo die ausgehungerten Hippie-Kinder (die sich meist ohne ausreichende Verpflegung und ohne Geld in einer gar nicht so liebevollen Umgebung wiederfanden) reihenweise mit Überdosen von damals noch neuartigen Rauschmitteln eingeliefert wurden - Ketamin zuerst, dann ziemlich reines Sandoz-LSD.


Natürlich ist das Haight inzwischen sowas wie ein schmutziges Museum. Flower Power ist ewig lange vorbei, immerhin versuchen die letzten Protagonisten der Gegenkultur mittels dem Verkauf von Souvenirs ihr Überleben zu fristen, da ist der touristische Touch schon ok. Ein übergroßer Held dort ist natürlich Grateful Dead-Gitarrist Jerry Garcia. Dessen Konterfei ist auf vielen Häuserwänden zu sehen, samt ungelenk gesprayten “Jerry Lives”-Parolen. Grateful Dead hatten ja in ihrer frühen Zeit im Haight ihr Haus samt Probenraum und gelten dort auch heute noch als diejenigen, die es “geschafft haben”.


Etwas weniger museal geht es am Venice Beach nahe Los Angeles zu, den wir im darauffolgenden Jahr besuchten. Noch touristischer als das Haight, dafür auch lebendiger, weil es dort noch immer die berühmten Boardwalk Musicians gibt: großteils obdachlose Musiker, die von morgens bis abends (nach Einbruch der Dunkelheit ist es verboten) die vorbeiflankierenden Besuchermassen mehr oder weniger unterhalten. Viele der sich dort ständig aufhaltenden Menschen sind zu Berühmtheiten geworden, wie der uralte Opa zum Beispiel, der auf seiner Gitarre mit umgehängtem Miniverstärker krächzende Solos jaulen lässt, die (mit viel Fantasie) an den seligen Jimi Hendrix erinnern.

Was macht ein Stoner als ERSTES am Venice Beach?
Die üblichen Wahnsinnigen sind natürlich auch ein Teil des Venice Beach - zum Beispiel der arme junge Mann, der sich bei unserem Besuch einen Flyer auf die Stirn getackert hatte und am Venice Beach auf- und ablief, um mit blutüberströmten Gesicht alle 5 Meter stehenzubleiben und ohrenbetäubend laut “Why?” zu kreischen. Sowas erregt dort allerdings keine besondere Aufmerksamkeit; wird also vermutlich als "Entertainment" wahrgenommen.


Inmitten all dieses bunten Wahnsinns, im Auge des Sturms sozusagen aber thront ER - eine Mischung aus Franz Liszt, Liberace und Glenn Gould. Von seinen langen, verfilzten Haaren verdeckt, konzentriert über sein Klavier auf Rollen gebeugt, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. So spielt er jeden Tag klassische Kompositionen von Bach bis Chopin; fehlerfrei und mit viel Verve. Sein Name ist Nathan Pino, und er bespielt den Venice Beach freiwillig seit vielen, vielen Jahren.
 Wenn man Nathan Pino googelt , fördert man erstaunliches zutage: Er war in den 1970er-Jahren Tourmusiker für und eine ganz kurze Zeit (1979) sogar einmal Teil des legendären One-Hit-Wonders Iron Butterfly.


Iron Butterfly (Photo von web.musicaficionado.com)
Iron Butterfly sind eine der genialst absurdesten Bands ever. Die (heute noch existierende!) Formation wurde 1966 gegründet und hatte mit dem bei Pfarrdiscos in meiner Jugend sehr beliebten “In-A-Gadda-Da-Vida” ihren ersten (und auch einzigen) Hit, wohl hauptsächlich aufgrund des ikonischen Schlagzeugsolos. Richtig legendär ist ihre Geschichte: es gibt wohl keine Band mit mehr Reunions, Besetzungswechseln und verstorbenen Mitgliedern (fünf sind es glaube ich inzwischen). In die Charts kamen sie nach ihrem 1968 mit Platin ausgezeichneten Hit-Album nie mehr, trotz 52-jähriger Bandhistory und unzähligen weiteren Versuchen.

Mystery Man: Philip Taylor Kramer
Legendär auch Philip Taylor Kramer, Iron Butterfly-Bassist 1974-1977: Der war eigentlich ein mathematisches Wunderkind, betrieb zusammen mit Randy Jackson (Bruder von Michael) eine kurzlebige Firma namens Total Multimedia Inc.(Datenkompression auf CD-Roms), arbeitete in einer dem US-Verteidingsministerium nahestehenden Firma an einem System für Lenkraketen und soll der Legende nach schließlich eine Formel entwickelt haben, die Einstein’s Relativitätstheorie ausser Kraft gesetzt hätte.¹

Bergung von P.T. Kramers Überresten in Malibu, 1999
 Besonders letzteres bleibt Spekulation, denn am 12. Februar 1995, auf der Fahrt mit seinem Auto zum Flughafen von Los Angeles, tätigte Kramer eine Reihe von seltsamen Telefonanrufen an Freunde und Familienangehörige und verschwand kurz darauf spurlos. Erst vier Jahre später wurde seine skelettierte Leiche samt Auto in der Nähe von Malibu aufgefunden. Von der Polizei damals als Selbstmord zu den Akten gelegt, bestreitet die Familie des Verstorbenen bis heute vehement diverse Suizidabsichten; sogar der englische Wikipedia-Artikel zum Thema räumt ein: “However, there are implications of foul play”.²

Nathan Pino wiederum, kurzzeitiger Organist bei Iron Butterfly, wurde das ganze Musik-Business zu viel - er stieg aus, nicht nur bei Iron Butterfly, sondern überhaupt aus seiner gesamten bisherigen Existenz. ³ Seitdem bespielt er den Boardwalk am Venice Beach, denn davon hatte er bereits als Kind geträumt.


Falls ihr einmal am Venice Beach seid, geht einfach so lange dem Strand entlang, bis ihr (hoffentlich noch immer) wunderbare, klassische Klaviermusik hört - und zollt dem großen Nathan Pino Respekt. Über ausreichende Spenden ist der Vollblutmusiker übrigens sehr, sehr dankbar.

***

¹ ausführliche Informationen zu dem Fall hier und hier.
² zitiert von Wikipedia
³ Feature über Nathan Pino (2013)

Nathan Pino auf Twitter. (bis 2015)



Photocredits: Sofern nicht anders angegeben, © Doc Nachtstrom & Juliane Brantner.

Sonntag, 6. Mai 2018

Im Kaninchenbau mit Legowelt II: Hits and High Strangeness.


Wie schon angedroht, schlüpfen wir nun endgültig in den Kaninchenbau hinein, um die komplexe Welt des Künstlers Danny Wolfers aka Legowelt weiter zu erforschen. Für Unkundige: hier gibt es Teil 1 der Artikelserie.

Beginnen wir mit dem Release, auf den sich alle einigen können: Crystal Cult 2080, im März 2014 erschienen, gilt als Meisterwerk. Wer sich mit dem Phänomen, dem Spektrum LEGOWELT beschäftigen will: hier werden so ziemlich alle Facetten präsentiert, und sie schimmern in unglaublich schönen Farben.

"Experimental Awakening", der Opener des grandiosen Werkes, macht bereits in den ersten Sekunden alles klar: Die schwirrenden Glöckchen sind der Auftakt zu den von Danny Wolfers über die Jahre im Studio entwickelten Markenzeichen. Da hören wir das gepitchte und heavy prozessierte Sprachsample und den hynotischen Elektrobeat, alle hohen Frequenzen abgedreht - es bleibt nur ein verhuschter Fetzen übrig, die Bassdrum aber knallt auch so, mit viel Kellerhall. Die mischt Legowelt aber bereits nach wenigen Sekunden mit fetzigen Cymbals, die direkt von einer zerkratzen Chicago House-Platte runtergerippt sein könnten.

Während wir also bereits von diesem Klangbild hypnotisiert werden, sollten wir uns vergegenwärtigen, daß Wolfers keine Samples verwendet, sondern - der Releasetitel gibt schon den Hinweis - hat sich (typisch für ihn) mit einem Synthesizer beschäftigt, den man heute gemeinhin als "uncool" bezeichnen würde. Der Roland JV-2080, ein Expansion-Module des Roland JV-1080, erschien 1997 und befand sich damals im Gerätepark von Künstlern wie Mike Oldfield oder auch Thomas Dolby, ohne dabei eine wahnsinnig prominente Rolle einzunehmen.

Hässlich und uncool: Das Roland JV-2080 Expansion-Module aus 1997

Obwohl später sogar Drum and Bass-Grössen wie LTJ Bukem oder Photek den JV-2080 benutzt haben, war das nicht signifikant genug, um die hässliche Kiste wieder aus dem Museum für nicht mehr angesagte Musiktechnologie herauszubekommen.

Ich kann mir das so richtig vorstellen, wie Wolfers den JV-2080 auf einem Flohmarkt entdeckt hat, ihn billig oder geschenkt von einem Kollegen bekam, ihn in jedem Fall in sein Studio geschleppt hat und es nicht erwarten konnte, ihn zum Leben zu erwecken. Und ihn gründlichst zu examinieren: Herr Legowelt is ja ein Musterbeispiel des Gearlovers, der Musik-Hardware auch wirklich verwendet (nicht ganz im Sinne des Erzeugers natürlich) und sich nicht einfach die Factory-Sounds von irgendwelchen Sample-CD's zieht (wie Mouse on Mars das mal in ihrem Buch "Vorgemischte Welt" so bitterlich beklagt haben).

Synth-Liebhaber und Bilderstürmer: Danny Wolfers (bild von levfestival.com)

Was aber Wolfers mit jeder erworbenen und in Releases benutzter Musik-Hardware betreibt, ist purer Ikonoklasmus: Durch die Zugabe diverser Filter, Anwendung von kluger Addition oder Subtraktion und radikalem Pitch oder Timestretch erfindet und definiert er quasi jedes erworbene Instrument samt Signature-Sounds neu. Das aber natürlich nicht für kommende Generationen, sondern um sich einen weiteren Apologeten seiner höchstpersönlichen Musik-Philosophie heranzuziehen. Und deren Motto lautet bei jedem seiner Releases: Hits und High Strangeness.

Währenddessen der geneigte Hörer sich nämlich von den okkulten Anspielungen in den Titeln und dem zugleich mystischen und trashigem Coverbild in diese ganz besondere, magische Legowelt-Stimmung bringen lässt, stampft Crystal Cult 2080 unbeirrbar wie ein Disco-Dampfschiff im ärgsten Arpeggio-Nebel. Wer das hört, verliebt sich sofort in Legowelt. Unsterblich!



Das grüne Auge.

Das Medium “Radio” wird bekanntlicherweise immer obsoleter - in Zeiten von Social Media, Youtube und Spotify ist das ein Phänomen, dem man gerade tatsächlich beim Verschwinden zusehen kann.

Abgesehen vom werbefinanzierten Hintergrundgeräusch der meisten UKW-Sender gibt es natürlich auch noch "Spartenradio" - für eine verschwindend geringe Elite allerdings, die aber für hochqualitativen Content wohl eher nicht in die eigene Tasche greifen würde; und so werden diese (wenigen) Qualitäts-Sender in absehbarer Zeit auch einfach nicht mehr finanzierbar sein.

Vielleicht sollte man das Radio ja als universelles Musik- und Unterhaltungsinstrument wiederentdecken, und damit meine ich keine Unterhaltungssender auf UKW. Ich stamme noch aus einer Zeit, in der es ganz normal war, im Wohnzimmer den mächtigen Radioapparat des Großvaters stehen zu haben. Dessen grünes Auge war für mich als Kind immer das Versprechen einer unfassbar spannenden Welt. Dreh an den mächtigen Knöpfen, beobachte das elegante Gleiten der Nadel in gelblichem Licht über magische Namen wie Oslo, Brüssel, Straßburg oder Berlin.

Und hör zu… aus dem wilden Rauschen schälen sich geisterhafte Stimmen in unbekannten Sprachen, Töne, die nicht von dieser Welt sein können. Stunden über Stunden habe ich gebannt vor diesem wundersamen Gerät verbracht, verwundert, ängstlich, aber immer extrem neugierig. Was war das für eine unsichtbare, unheimliche Welt, die alles durchdrang?


So wie mir ging es natürlich auch vielen anderen Menschen, in meiner Generation und in den Generationen zuvor. Zum Beispiel Tod Dockstader (1932 - 2015), ein legendärer amerikanischer Komponist elektroakustischer Musik: In einem ausführlichen Feature in der britischen Musikzeitschrift The Wire erfuhr man von seinen prägenden Kindheitserlebnissen mit dem Thema Radio. Ein Auschnitt:

Growing up in St Paul, Minnesota in the 1930s, Dockstader suffered from an extreme form of eczema that often required whole summers to be spent in hospital, submerged in baths against possible infection, plus long hours passed alone in a darkened room, reading books and listening to the radio. “I lived with that radio,” he recalls, “because that was the medium for the imagination. The radio then wasn’t like we have now. In those days there were all kinds of stories, plays and the use of sound effects, music… that was a real world. That was my window.”

   
[...] As a small child in the 1930s, listening in the dark to broadcasts of speeches and rallies relayed directly from Nazi Germany, this descent into echoing choral antiphony was all too real. “They’d play these things when I was little,” Dockstader explains, “and I remember the terror not so much of the voices themselves, although they were pretty scary too, but the combination of the voices with the roaring that’s on shortwave radio - these outer space sounds going on behind them, non-human, chiming in. 

“I’d lie with my ear stuck right by the radio so I wouldn’t wake up my parents,” he says. “I was always fascinated when it went wrong. Most people would turn their radios off but I’d leave mine on. Somebody would make a mistake, but there was still a presence I could hear. That interested me. I always thought radio was a great mystery.”


[...] “Tuning through an old radio dial put you in touch with the space between stations, a mysterious zone of harmonies and distortions that existed and functioned according to a strange and distinct logic. “A lot of really funny things would happen,” he concurs. “You know, two stations would get off-frequency and their signals would start colliding, so you’d hear something that sounded like a demented carousel or a pipe organ gone badly wrong. The old tube radios were very imprecise. We had a lot of storms in Minnesota, so you’d have atmospherics that would come onto the frequency. Sometimes it was like a cosmic breathing or something.” ¹

  
Die Worte dieses alten, weisen Komponisten drücken so ziemlich all das aus, was ich als Kind ebenso empfunden habe. Und das prägt auch, diese Faszination mit dem “Rauschen” lässt einen nie wieder ganz los. Im Alter von 70 Jahren hat Tod Dockstader übrigens noch ein grosses Werk geschaffen, das als Tribut an seine frühen Radioerlebnisse gesehen werden darf. “Aerial” erstreckt sich in mehreren Teilen über insgesamt drei Releases und gehört zu den Highlights meiner Musiksammlung. Alle Sounds, die du da hörst, wurden von Dockstader selbst von alten Radioapparaten aufgenommen und im Computer so lange prozessiert, bis sie sich zu einer epischen (und überraschenderweise sehr harmonischen und hörbaren) Symphonie verbinden.

In dieser mysteriösen Schattenwelt aus aufgetürmten und schnell wieder zerfließenden Rauschkaskaden verbergen sich noch einige spannende Geheimnisse; über das sog. “Utility Radio” auf Langwelle, die teilweise noch immer funktionsfähigen “Spy Number Stations” und die wundersamen Tonbandstimmenforscher ab Mitte des vorigen Jahrhunderts wird hier auf jeden Fall noch ausführlich berichtet werden.

***

¹ Zitiert aus einem Interview von Tod Dockstader mit Ken Hollings 2005 für The Wire. Das ganze Interview kann man hier nachlesen.




 

Donnerstag, 3. Mai 2018

Platten, die dein Bewußtsein verändern.

Heute beschäftigen wir uns mit drei Releases, die behaupten, das Bewusstsein des Hörers beim Abspielen der Musik und/oder eines gelesenen Textes zu verändern. Wie ein Praegustator im alten Rom¹ hat sich euer Bloghost bei jedem der vorgestellten Werke auch als kritisches Testobjekt zur Verfügung gestellt. 


Trigger Warning: Falls beim Anhören der hier besprochenen Werke etwaige Nebeneffekte wie Zeitverlust, Schwindel, Unwohlsein oder eventuelle halluzinatorische Episoden auftreten, ist jegliche Sitzung sofort abzubrechen. Geistergesang™ ist in keinem Fall für eventuelle geistige Verwirrung (die jedoch bald wieder abklingen sollte) haftbar.

Time Machines vom legendären britischen Duo Coil ist natürlich das erste Werk, das in den Sinn kommt soll es doch der Legende nach Zeitreisen oder sogar Reisen in andere Dimensionen ermöglichen. "4 tones to facilitate travel through time", so der Untertitel des 1998 erschienenen Releases; die einzelnen Stücke haben so schöne Namen wie 7-Methoxy-β-Carboline: (Telepathine) oder 2,5-Dimethoxy-4-Ethyl-Amphetamine: (DOET/Hecate),
5-Methoxy-N,N-Dimethyl: (5-MeO-DMT) oder auch4-Indolol,3-[2-(Dimethylamino)Ethyl], Phosphate Ester: (Psilocybin)

Laut Bandinfo seien dies mittels diverser Synthesizer, Samplern und anderer Musik-Hardware umgesetzte Meditationen über diverse "experimentale Drogen", welche den Bandmitgliedern von "führenden, internationalen Chemikern zugeschickt worden seien."²

Das bis jetzt am häufigsten von "Time Machines"-Hörern angegebene Phänomen ist das der sogenannten "Temporal Disruption", also im Nachhinein bemerkter Zeitverlust. Das Phänomen soll sich intensivieren, wenn man die einzelnen Drones mit Loopfunktion so lange wie möglich hört Coil selbst schwebte eine Anhördauer ähnlich der Eternal Drones eines La Monte Young vor also am besten viele Stunden oder Tage am Stück. 

Ich gebe zu, bei hoher Lautstärke und sensorischer Deprivation kann das schon ganz schön verwirrend werden. Wenn man allerdings in keinem induzierten "Trance-State" ist, gibt man bald auf, denn als Hintergrundmusik eignet sich "Time Machines" auf Grund der recht unangenehm anzuhörenden Frequenzen in gar keinem Fall. 

Kurz vor seinem Tod stellte das verbliebene Coil-Gründungsmitglied Peter Christopherson übrigens noch "Time Machines II" fertig, die posthum im Jahr 2014 veröffentlicht wurden.



 ***

Wirklich deftig und grandios absurd ist das Konzept eines wenig bekannten Releases auf Ipecac, dem Label des Faith No More-Sängers Mike Patton. Das mysteriöse Golding Institute (welches mich sehr an das Arboria Institute des Kultstreifens "Beyond the Black Rainbow" erinnert) ermöglicht mit "Final Relaxation" einen... schmerzfreien Tod!

Den Promotext dafür muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: "The most shocking album of our generation! A radical cult-group masquerading as a educational organization, The Golding Institute presents this disturbing audio program that enables the listener to die... simply by listening to it! A record with the power to kill! Stomach-turning medical tones and a horrible narration take the listener through a series of visualization and breathing techniques that shut down the body's organs one by one... until the subject is finally dead."

Die zittrige Stimme des "Vorlesers", die unterschwellig-sinistren elektronischen Töne im Verbund mit dem Promotext schaffen es doch tatsächlich, so eine Art Mini-Urban Legend im Kopf des Zuhörers entstehen zu lassen. Vielleicht funktioniert es ja wirklich? Ich habe die CD bis heute nicht fertig gehört, weil... naja. Aberglaube!
Auf Bandcamp kann man sich die "Final Relaxation" in einem Rutsch anhören... wenn du dich traust.



***

Vor ungefähr einem Jahr ist "Patterns of Consciousness", ein Werk der in Berlin lebenden Komponistin Caterina Barbieri als Doppel-LP auf Important Records erschienen. Barbieri, deren Selbstbeschreibung auf ihrer psychedelisch-bunten Homepage ("Caterina explores the psycho-physical effects of repetition and pattern-based operations in music, by investigating the polyphonic and polyrhythmic potential of sequencers to draw severe, complex geometries in time and space.") mir sehr sympathisch ist, liefert mit den ausführlichen Liner Notes gleich quasi die "Bedienungsanleitung" für diesen hochkomplexen Release mit: "A pattern creates a certain state of consciousness. Once it is created, the pattern stands as an object exactly like the sound waves which generate it. We are at the same time inside and outside of the object. While being it, we observe it. Over time we become familiar with the inner structure of the pattern. We decode its gravitational centres, where our psycho-motor attention is attracted, where everything seems to be drawn."

Caterina Barbieri (Foto von vice.com)
 "When a change in the pattern occurs it causes a perturbation of the previously established field of forces. This causes consciousness to fracture, potentially unfolding layers of perceptions we weren't aware of or simply suggesting that we access only a fraction of our psychic potential. The layered nature of consciousness and the relativity of perception are some of the biggest secrets we can experience through sound." ³

Das klingt spannend und erzeugt als selbsterfüllende Prophezeiung natürlich gleich einmal eine sehr wache und aufmerksame Grundhaltung. Die Tracks auf "Patterns of Consciousness" starten sehr minimal und "rein", da konsequenterweise nur ein Oszillator und ein sogenannter Indexed Quad Sequencer (hmmm... keine Ahnung) verwendet wurden. Ein bisschen Sitzfleisch vorausgesetzt, kann man den einzelnen Grundeinheiten wunderbar bei ihrer Evolution in immer komplexere Patterns beobachten, wobei die zunehmende Variation dieser ("By means of subtraction,addition and jitter operations, Barbieri derives a myriad of interlocking patterns extracted from an original matrix of just few harmonic archetypes, gradually developing the potential of the reduced constellation of pitches and durations determined in advance.")⁴ in meinem Hirn einen Vorgang auslöst, den ich sehr gerne mag. Ich nenne das gerne "Geisterkomposition", andere vielleicht "Sphärenmusik" (dazu ein andermal noch mehr). 

Das haben mir allerdings keine Engel eingegeben, sondern mein absichtlich verwirrtes Bewusstsein: Da es nicht mehr in der Lage ist, Muster zu erkennen, erzeugt es einfach neue; ich glaube das ist es auch, was Barbieri vielleicht erreichen wollte? Diese elegante Demonstration eines immer undurchdringlicher mit Maschinencode durchsetzten Lebensumfeldes triggert allerdings auch den Science Fiction-Fan in mir; das Kind, das beim Ansehen des Films "Alphaville" aka "Lemmy Caution gegen Alpha 60" von Jean-Luc Godard vollkommen verängstigt und auch verzückt zum ersten Mal der Stimme einer Maschine lauschen durfte. 



"Patterns of Consciousness" kann man hier bestellen.

***

¹ zitiert von Wikipedia
² zitiert aus einem Interview mit Coil in The Wire 1988, Link.
³ zitiert von importantrecords.com/imprec/imprec449
⁴ zitiert aus Boomkat-Review, 26 May 2017

hier noch eine interessante Analyse zu "Final Relaxation".

Und hier meine allerliebste Maschinenstimme aus "Alphaville":