Sonntag, 29. April 2018

Konrad Becker - Grand Piano Classics

Die Klanggalerie feiert demnächst ihren 25. Geburtstag aus diesem Anlass richten wir in diesem Artiklel den Blick auf einen der vielen genialen Releases des Kultlabels. Den könnt ihr euch (so nicht vergriffen, da die Auflagen teilweise streng limitiert sind), auf der Homepage des Labels bestellen, auf Bandcamp downloaden oder im Mord und Musik in Wien höchstpersönlich beim Eigentümer kaufen.

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Konrad Becker Grand Piano Classics

Ich habe ja einen riesengroßen Soft Spot für Veteranen der elektronischen Musik im deutschsprachigen Raum: Asmus Tietchens, Conny Schnitzler, Holger Hiller, Hans-Joachim Roedelius, Felix Kubin, Udo Heitfeld aka TV Viktor... und noch viele andere mehr, die ihrer widerborstigen Kunst abseits des Mainstreams über viele Jahrzehnte treu geblieben sind teilweise unter erheblichen Opfern im Privatleben.

Und an dieser Stelle darf natürlich Konrad Becker nicht fehlen: Der Wiener Medienforscher und Aktivist wurde im Lauf seines Lebens bereits mehrfach mit Preisen geehrt und ist auch heute noch aktiv hauptsächlich als gefragter Vortragender, Buchautor und Verfasser von Texten zur Politik der Infosphäre; hier beschäftigt er sich mit den "kulturellen und psychosozialen Implikationen einer von Technologie bestimmten Informationsgesellschaft."¹ 

Konrad Becker, Bild von www.elevate.at
Und natürlich kennt man sein ikonisches Projekt Monoton, das es mit einem Release sogar in die (für mich unantastbare) "100 Records That Set the World on Fire (While No One Was Listening)"-Liste der britischen Zeitschrift The Wire schaffte.²

Weniger bekannt sind vermutlich seine Kompositionen für akustische Instrumente, und hier gibt es auf der Klanggalerie ein absolutes Highlight zu entdecken. Auf "Grand Piano Classics" versammeln sich mehrere Werke Beckers für sogenannte (selbstspielende, also vorher programmierte) Player-Pianos, die in ihrer Weigerung einer stlilistischen Einordnung unglaublich reizvoll sind. 

Was sich am Anfang noch entfernt nach berühmten minimalistischen Kompositionen von Reich oder Riley, oder besser noch nach den wilden Werken von Conlon Nancarrow anhört, nimmt bald rasende Fahrt auf ein Zug, der wie in der berühmten Kurzgeschichte von Friedrich Dürrenmatt durch einen ewigen Tunnel unaufhaltsam in die Tiefe rast. 

Friedrich und Lotti Dürrenmatt (Foto aus "Dürrenmatt: Eine Liebesgeschichte")
Und wie der Protagonist der Novelle möchte man ausrufen: "Was sollen wir tun Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu." ³ Und was danach passiert, diese Erkenntnis verdanken wir den "Grand Piano Classics": Wie in einem Orkan, durch dessen Wirbel wir letztendlich zum Mittelpunkt, zum Auge des Sturms vordringen, beginnen die nervenzerfetzenden Staccati zu verschwimmen und wir tauchen ein in einen wunderschön verhallten Drone, in dessen ruhig dahintreibender Umarmung wir zur Ruhe kommen und uns schließlich selbst erkennen dürfen; in einer Klarheit, die uns im alltäglichen Einerlei des Lebens eigentlich so gut wie immer verwehrt bleibt.

Das ist große Musik, die Großes bewirkt diesen mächtigen, mäandernden Türmen aus Klang hat man auf diesem Release ausserdem noch ein paar unveröffentlichte Zero Oxygen-Tracks beigegeben; nach den erschütternden Erfahrungen zuvor wirken diese leichtfüssig, verspielt und sind perfekt geeignet, um wieder in die Realität zurückkehren. 

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¹ zitiert von Wikipedia

²  The Wire’s "100 Records That Set the World on Fire (While No One Was Listening)"- detaillierte Liste auf Discogs

³ zitiert aus Friedrich Dürrenmatt: "Der Tunnel: und andere Meistererzählungen", Diogenes Verlag, 3. Auflage, 2011



Konrad Becker: "Grand Piano Classics" (Klanggalerie gg143) kann man auf Bandcamp zum Preis von € 7,99 kaufen.

Die Klanggalerie feiert übrigens Anfang Juni ihren 25. Geburtstag mit einem rauschenden, zweitägigem Fest inkl. Performances von Thigpaulsandra, Tabor Radosti, Non Toxique Lost uvm. Alle Infos dazu gibt es auf Facebook.

Freitag, 27. April 2018

Im Kaninchenbau mit Legowelt


Dies hier könnte der Prolog sein zu ungefähr 1000 Blogeinträgen, die ich in den nächsten ca. 100 Jahren zum Thema Danny Wolfers a.k.a. Legowelt (a.k.a. Macho Cat Garage, Polarius, Raheem Hershel, Squadra Blanco, Gladio, Smackos, Klaus Weltman, Catnip, Trackman Lafonte etc etc.) geplant habe. Weil ich den so verehre, werde ich nämlich sicher demnächst wieder über ihn schreiben.

Aber zuerst noch ein weiteres Pseudonym: Wolfers ist auch Franz Falckenhaus und hat als dieser kürzlich ein unfassbar geniales Album namens Tupolev System bei Giallo Disco Reccords gedroppt Fans von Horror Disco und Italo House bejubeln es gerade ohne Ende.

Horror Disco? ("Specially crafted atmospheric, cinematic dance music taking influence from Italo Disco, Krautrock, New Beat, EBM, House, Techno and most importantly the film scores of the 70s and 80s, think Argento's Tenebrae, Fulci's Zombie and John Carpenter's Escape From New York"¹) Nur eine der bizarr klingenden und gerade deswegen so vielversprechenden Nischen, in denen Herr Legowelt seine unüberschaubare Flut von Releases ablegt wie eine hochmotivierte Alien-Mutter ihre Eier. Weitere obskurantische Schubladen gefällig? Da wäre ausserdem noch: Slam Jack The Hague Electronix, Deep Chicago Trax, Obscure & Romantic Ghetto Technofunk.

Legowelt - "Techno's favourite mystical Weirdo" (Vice)
Sowas törnt diesen Bloghost hier unglaublich an, müsst ihr wissen. Wolfers versteht es meisterhaft, seine Spuren zu legen und gleichzeitig zu verwischen. Bewusst Nebel zu erzeugen, in dem Stilgrenzen zu verschwimmen scheinen. Nur um scheinbar zu neuen, signifikanten Plattformen zusammenzuschmelzen.

In diesem Irrgarten von unzähligen Plateaus (die vollkommen wahnsinnigen Philosophen Deleuze und Guattari hätten mit Wolfers' Output vermutlich ihre helle Freude gehabt) ist eine Erforschung nach Platons hierarchischem Baum des Wissens vollkommen unmöglich im Gegenteil, hier führt die ständige Fragmentarisierung tatsächlich zu "stetigen Verweisen auf höher gedachte, allumfassende Einheiten"², wobei auch diese Instanzen wiederum immer nur eine Illusion von Wissenserkenntnis gewährleisten können.


Das finde ich echt gut so. Denn, solange man verunsichert ist und sich wundert, ist man ja viel offener, als wenn das Hirnschmalz des geneigten Journalisten, Musikfreaks oder Fans sich blitzschnell in Sicherheit wiegt, weil es meint, vertraute Muster zu erkennen.

Deswegen also meine angedrohten, rhizomatisch geprägten Versuche, hier sozusagen als kleines Forschungsprojekt über "Techno's favourite mystical Weirdo" (Vice) mit ihm im Kaninchenbau zu verschwinden (und am anderen Ende vielleicht vollkommen verändert wieder herauszukommen?).

¹ Definition zitiert von: https://giallodiscorecords.bandcamp.com/

² zitiert von https://de.wikipedia.org/wiki/Gilles_Deleuze

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Legowelt - die Homepage

Wolfzine - Cyperpunk-Magazin in Ascii-Text


Mittwoch, 25. April 2018

Sleep - The Sciences.

Sleep haben im Genre Stoner Rock/Doom unglaublich viel bewirkt: Den unterhaltsamen und (Anfang der 70er-Jahre) noch unerhörten Okkultismus von Black Sabbath und den utopischen Wüsten-Eskapismus von Kyuss haben sie in den 1990er-Jahren in eine Art neuer Mystizismus verwandelt. Das war damals aber wohl weniger irgendeiner Art von missionierender Esoterik geschuldet, sondern dem erheblichen Konsum von bunten Pillen und grünem Zauberkraut da schleicht sich die Beschäftigung mit Buddhismus und anderen bereits totgeglaubten Hippie-Tugenden vermutlich wie von selbst ein. Und: Als Stoner kann/will man natürlich auch keinen rasenden Speedmetal spielen, so zumindest stellt sich euer Bloghost vor, wie man zu diesem herrlich rumpelnden, ur-gemütlichen Sound kommt, den Sleep damals zu einem Standard gemacht haben.

Sleep anno 2018 (Photo from blabbermouth.net)
Nach zwei Jahrzehnten voll Stonertum, Drogen, Flucht ins Kloster, Labelstreitereien, Soloausflügen und noch mehr Drogen und Stonertum haben Sleep nun also wieder mal geruht, einen ihrer raren Releases an das geduldig wartende Stoner-Volk weiterzugeben. Natürlich hat "The Sciences" keine Neuheiten zu bieten, das wäre ja auch musikalischer Selbstmord, ausleben tun sich die Bandmitglieder sowieso in ihren Soloprojekten. Aber ganz egal, Sleep brauchen das Rad ja nicht mehr neu erfinden.

Sleep Live in New Orleans 2018 (Photo by Josh Brasted/FilmMagic)
Auf "The Sciences" sind einige Tracks zu hören, die Sleep auf ihren Konzerten der letzten Jahre bereits live gespielt haben. Deswegen ist die Doom-Maschine auch so wahnsinnig geölt und flutscht auf der grünen Autobahn direkt in das Hirn hinein. Dabei hat man aber erfreulicherweise soundtechnisch nicht geschlafen die Balance, die alten Rumpel-Tugenden mit einem wesentlich druckvolleren Sound zu verbinden, ist absolut geglückt.

Also: Fenster und Türen verrammeln, Lavalampe anwärmen, Pfeifchen anzünden und Kopfhörer auf es erwartet euch ein wunderbarer Trip nach La-La-Land garniert mit viel Spaß (Giza Butler!) und sexy Psychedelik. 10 von 10 Dabs!


In Deutschland spielen Sleep dieses Jahr nur eine Handvoll Konzerte, z.b. am 19.05 in der Markthalle Hamburg, und am 25.05 im SO 36 in Berlin (dafür hab ich Karten, yaiii!)

Den Release kannst du hier bestellen: The Sciences [Explicit]


Dienstag, 24. April 2018

Mit Herzblut komponiert.

Der Duden erklärt die Bedeutung des Wortes "Herzblut" mit "sich ganz für jemanden, etwas einsetzen, aufopfern"; gerade im kreativen Bereich verwenden wir den Begriff gerne für die uns bedeutsamen und besonders wertvollen Projekte. Da fragt sich euer Bloghost natürlich zwangsweise: Hat denn wirklich schon mal jemand tatsächlich sein Blut in ein Projekt eingebracht?

Nikolai Borisovich Obukhov (1892-1954), ein 1918 aus Russland vor den politischen Säuberungen nach Frankreich geflohener Komponist, hat genau das getan: sein Hauptwerk "Kniga Zhizni" ("Das Buch des Lebens") zu erheblichen Teilen mit seinem eigenen Blut geschrieben.

Seine Inspiration hatte Obukhov aus den herrlich exzentrischen Spätwerken Alexander Scriabins bezogen in Frankreich wurde er von Maurice Ravel gefördert, Arthur Honegger zählte zu seinen Bewunderern. Obukhov war ein äußerst kreativer Geist, er erfand ein neues Notationssystem, ersann eine Kompositionsmethode, die Teile von Arnold Schönbergs Zwölftontechnik vorwegnahm, und beschäftigte sich mit der Konzeption elektronischer Instrumente für den Einsatz in seinen Werken.

Eines davon wurde tatsächlich gebaut es war dem Theremin, das der Erfinder und Spion Lew Thermen um diese Zeit herum konstruierte, ähnlich, bloß hatte es die Form eines Kreuzes. Das war deswegen wichtig, weil es natürlich nicht nur ein Instrument mit neuer Klangfarbe sein sollte, sondern auch ein sichtbares Symbol des Mystizismus, mit dem sich Obukhov vermutlich ebenfalls bei Scriabin angesteckt hatte.

1934: Das "Croix Sonore" in Aktion.

Das "Buch des Lebens", wie schon erwähnt, teilweise mit dem eigenen Blut des Komponisten verfasst, hatte übrigens kein glückliches Schicksal: Von seiner Obsession damit rasend gemacht, hatte es seine junge Frau einmal in kleine Stücke zerissen (Obukhov soll es unter Zuhilfenahme diverser Körperflüssigkeiten akribisch wieder zusammengefügt haben); 1949 wurde der als Maurer arbeitende Komponist schließlich Opfer eines brutalen Raubüberfalls, dem nicht nur seine fragile Gesundheit, sondern auch ein großer Teil seines Lebenswerkes zum Opfer fielen.

Obukhov lebte, schwerst gezeichnet, noch fünf Jahre; die verbliebenen Teile des "Kniga Zhizni" befinden sich in der Bibliothèque Nationale in Paris und werden sporadisch aufgeführt. Zwar nicht im Sinne des Komponisten (der eigentlich vorgesehen hatte, dass das "Buch des Lebens" in einer eigens dafür gebauten Kathedrale in einer 24-stündigen Aufführung jeweils jährlich zur Wiederauferstehung Christi "enthüllt" werden sollte), aber immerhin bekommen wir musikhungrigen Klassik-Geeks einen ungefähren Eindruck von der ursprünglichen Vision.

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Sonntag, 22. April 2018

Schlafmusik von Robert Rich.

Weil euer Bloghost eine Nachteule ist und es sowieso nie so ganz einfach fand, einzuschlafen, hat er den Vorgang des Schlafes über die Jahre einfach zu einem Experimentierfeld umfunktioniert.

Das hat mich zum sehr interessanten (und unerschöpflichen) Bereich des "Weißen Rauschens" geführt, über meine ASMR-White Noise-Forschungen aber ein anderes Mal mehr.

Viele Menschen schlafen ja mit für sie individuell geeigneter Musik leichter als in kompletter Stille (oder Lärm, der dem Schlaf abträglich ist, Verkehrslärm zum Beispiel oder die Schlafgeräusche eines etwaigen Partners).

Der Ambient-Musiker Robert Rich hat sich in der Zeit, als er in Berkely am Institut für Computermusik studierte, von einem Buch von R. Murray Schafer inspirieren lassen und hat Schlaf- und Traumforschung und musikalische Komposition zueinander geführt.

So entstanden spezielle Werke für sogenannte Sleep Concerts: "Around 1981, I got the idea to play concerts for sleeping audiences, as a way to introduce my static music to a more receptive audience. These Sleep Concerts lasted all night long, from 11 PM to 8 AM. The audiences brought pillows and sleeping bags and slept while I stayed up performing my long drones. My first several tapes came out during this period, and they reflected condensed versions of this slow-motion music. Since then, my music has become more active, but I think these elements of Trance and Drone are still central to my music."(1)

Robert Rich in seinem Studio (Foto von echoes.org)

Wenn man sich diese gigantischen Kompositionen anhört, kann man erahnen, was für ein Durchhaltevermögen Rich da gehabt haben muss; die einzelnen Motive seiner Musik entwickeln sich im Lauf von 7 Stunden, und das als Performance für ein großteils schlafendes Publikum.

"Somnium", welches dann im Jahr 2002 endgültig als DVD-Release erschienen ist, beeindruckt aber auch im wachen Zustand sehr. Es wird allerdings empfohlen, sein Gehirn beim Anhören mit etwas anderem zu beschäftigen, damit nicht intellektuelle Ungeduld der ultralangsamen Evolution der epischen Motive im Weg steht.

2014 veröffentlichte Rich übrigens mit "Perpetual - A Somnium Continuum" eine weitere Schlafkomposition, die mit 8 Stunden wohl eines der längsten Werke elektronischer Musik darstellt.




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(1) Interview mit dem Magazin "Deep Listening", 1994

Homepage von Robert Rich

Donnerstag, 19. April 2018

Musik aus dem Totenreich.

In ihrer Kindheit wurde die Britin Rosemary Brown (1916-2001) vom Geist eines alten Mannes besucht, der ihr mitteilte, sie "würde noch viel von ihm hören". Dieser Geist entpuppte sich später als der tote Franz Liszt, welcher der einfachen Hausfrau mit keiner außergewöhnlichen Musikbildung bis in die 1990er-Jahre hinein zu seinen Lebzeiten nicht mehr fertiggestellte Werke diktierte. Das tat übrigens bald nicht nur er alleine, auch Brahms, Bach, Rachmaninow, Schubert, Grieg, Debussy, Chopin, Schumann, Beethoven und später auch John Lennon offenbarten Frau Brown im Laufe ihres Lebens "Geisterkompositionen", die sie gewissenhaft Note für Note niederschrieb.

Als sie sich in den 1970ern bei der BBC einem "Live-Channeling" unterzog, waren die hinzugezogenen Experten begeistert. Später kam man allerdings zu dem Schluss, die gechannelten Kompositionen erinnerten zwar an den Stil der jeweiligen Komponisten, würden jedoch "nicht die Qualität der von diesen zu Lebzeiten komponierten Werke erreichen".(¹) Bis heute ist allerdings unklar, wie Brown mit ihren mangelhaften Kenntnissen in Musiktheorie solche komplexen Kompositionen überhaupt hatte verfassen können.

¹ zitiert von https://de.wikipedia.org/wiki/Rosemary_Brown

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Artikel aus dem "Spiegel" im Juli 1970.