Mittwoch, 8. August 2018

Musik aus dem Ventilator.


In irgendeiner Zeitung hab ich kürzlich gelesen, dass durch die konstante Erwärmung auch die Lärmbelästigung durch Klimaanlagen und Ventilatoren zunimmt – es summt, brummt, klirrt und weht überall. Laut diesem Artikel wären die Menschen durch diese Lärmbelästigung zusätzlichem Stress ausgesetzt und würden sich nichts sehnlicher als Stille wünschen. Das Problem: Stille ist ein rein theoretisches Konzept, im echten Leben kommt sie nicht vor. Das kann man in sogenannten “schalltoten” Kammern (richtiger: “reflexionsarmen Räumen”) feststellen, wie es sie zum Beispiel an der Uni Wien und vielen weiteren Universitäten gibt.

John Cage im "Anechoic Chamber", Harvard (1951)
Ein solcher Raum namens “Anechoic Chamber” an der Harvard-Universität wurde 1951 vom berühmten Komponisten John Cage besucht. Was er in diesem wohl stillsten Raum der Welt hörte, ließ er sich hinterher erklären: einerseits das Rauschen seines eigenen Blutes und andererseits das hohe Sirren seines Nervensystems. ¹ Selbst in einem schalltoten Raum kann man also nicht von absoluter Stille sprechen. Diese Erfahrung prägte nicht nur seine musikalische Philosophie (und führte letztendlich zu der legendären Komposition 4’33) – bis in die letzten Jahre seines Lebens ließ sie Cage den Straßenlärm unterhalb seines New Yorker Apartments nicht nur stoisch ertragen, sondern zu einer ständigen Inspirationsquelle werden: “Wherever we are, what we hear is mostly noise. When we ignore it, it disturbs us. When we listen to it, we find it fascinating”. ²


4’33 weist da ganz exemplarisch den Weg. Dieses heute noch sehr kontrovers rezipierte Werk Cages besteht ja bekanntlich darin, dass ein Konzertpianist während der Aufführung den offenen Klavierdeckel zuklappt, eine Stoppuhr startet, und dann exakt vier Minuten und 33 Sekunden NICHTS tut. Was Cage damit bezweckte: Wenn wir innerhalb einer gewissen Zeitspanne gezwungen sind, auf unsere Umgebungsgeräusche zu hören, können wir mit diesem Material unsere eigene “Musik” komponieren – die besteht in dem Fall der vorliegenden Konzertsituation aus dem Wispern, Rascheln, Murmeln und Sesselrücken eines höchst irritierten Publikums. Das ist übrigens auch eine wunderbare Übung, die in manchen Einführungen zum Thema “Komposition” empfohlen wird: Man nehme eine gewisse Situation am Tag (zum Beispiel während eines Spaziergangs, auf dem Weg zur Arbeit) und höre in dieser Zeitspanne genau auf die Umgebungsgeräusche – ein bisschen Fantasie vorausgesetzt, lassen sich diese Geräusche im Kopf zu einer richtigen Symphonie zusammensetzen.

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Damit zurück zu den rauschenden Ventilatoren: Wenn man den Ärger über die Lärmbelästigung aufgibt und versucht, dem Klang dieser Maschinen einmal ganz vorurteilsfrei zu lauschen, wird man erstaunt sein, was man da alles so hört: viele Arten von unerwarteten Geräuschen, seltsame Musik, menschliche Stimmen und mehr. Das kann zwischendurch auch ganz schön irritierend werden.

 

Der Grund dafür liegt in der sogenannten Clustering-Illusion, die laut Definition “die menschliche Eigenschaft beschreibt, zufälligen Mustern, die in ausreichend großen Datenmengen zwangsläufig vorkommen, Bedeutungen zuzuschreiben.” ³ Eine Variante davon ist die sogenannte Pareidolie – die zweifelhafte Fähigkeit unseres hyperaktiven Gehirns, in solchen für uns ungeordneten Umgebungen sofort eine gewisse Art von Sinn zu erkennen. Hat nicht jeder schon einmal in den Unregelmäßigkeiten einer Mauer ein Gesicht gesehen? Das Erkennen von Gesichtern in zufälligen Strukturen ist ein perfektes Beispiel für die Pareidolie und kann wie im Falle des “Marsgesichts” sogar als Schlagzeile um die Welt gehen. Die Pareidolie ist außerdem als Erklärung für so gut wie alle “Geisterfotos” zu gebrauchen, die im Internet kursieren und nicht sowieso absichtlich gefaked sind.


Das Ganze funktioniert natürlich auch auf der Ebene des Hörens: Auch hier versucht unser Hirn, aus den ungeordneten Mustern eines Geräuschs etwas uns Bekanntes herauszufiltern – das reicht dann von den vorhin beschriebenen leichten Audiohalluzinationen über die von übernatürlichen Kräften empfangene “Himmelsmusik” bis hin zu den “Toten”, die aus dem Jenseits zu uns via Radio sprechen oder zu den sogenannten “Reversals”, die man beim Rückwärts-Abspielen populärer Songs entdeckt haben will. Die von Esoterikern und Verschwörungstheoretikern zugeschriebenen Bedeutungen dieser Phänomene lassen sich übrigens ganz leicht entzaubern: Wenn man nicht vorher schon mitgeteilt bekommt, was man hören wird (eine zwingende Praxis in solchen Kreisen) und das Hirn dann diese Interpretation brav bestätigt, wird man nur das hören, was diese angebliche Phänomene wirklich sind – eine rein zufällige Anordnung von Geräuschen.


Es gibt übrigens bei der beschriebenen Pareidolie auch eine enge Verwandtschaft zur sogenannten Apophänie – einem Symptom der Schizophrenie, bei dem die Wahrnehmungen in zufälligen Mustern beginnen, eine persönliche Bedeutungsebene anzunehmen. Wenn das der Fall ist, wird es jedenfalls höchste Zeit, etwas für die geistige Gesundheit zu unternehmen. Wir kennen alle den einen oder anderen tragischen Fall, in dem einem psychisch kranken Menschen “persönliche Botschaften” über das Radio, TV oder andere Medien übermittelt werden; in fast allen Fällen ist das ein relativ sicheres Zeichen für eine Psychose.


Das soll uns jedoch nicht davon abhalten, schöne Musik aus Ventilatoren zu hören. Zumindest den Stresslevel bezüglich Umgebungslärm kann man so wunderbar abbauen oder verringern. In der Tat gibt es da schon eine richtige Industrie, die sich die Phänomene ASMR und White Noise einverleibt hat – aber das ist Thema des nächsten Teils, den ihr in Kürze auf meinem Blog lesen könnt.

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¹ John Cage and the anechoic chamber.

² John Cage, Silence: Lectures and Writings, Wesleyan 50th Anniversary Edition, 2013

³ https://de.wikipedia.org/wiki/Clustering-Illusion

2 Kommentare:

  1. lieber doc nachtstrom, deine artikel sind für mich immer wieder bereichernd und oft sehr bewusstseinserweiternd - auch in deiner sprachlich genauen aber auch spielerischen konzentration. danke schön. wirklich wahr. du hast mich oft dazu gebracht über meine konzepte hinauszudenken/ gar hinauszuleben.

    ich habe aber zu dem thema reversals eine kleine anmerkung zu machen. aus eigener erfahrungen - durch reversalspeech kurse und teilweise auch durch einzelsitzungen - es gibt reversals die nichts mit mustererkennung zu tun haben. sondern - tatsächlich antworten auf die vorwärtsgesprochenen sätze sind. so erlebt einen ganzen antwortsatz im reversal in einer denkpause zwischen 2 wörtern.
    was auch immer da passiert? wer oder was etwas projiziert? Es ist existent! weit über eine mustererkennung hinaus und für manche menschen eine heilsame arbeit. und allemal - sind die welten, ist das bewusstsein, schöpferischer und kreativer als wir alle denken zu wissen!

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  2. hello, danke sehr für dein lob! fallst du die karina kaiser meinst - ich erinnere mich daran, daß deren buch bzw die beispiele darin recht eindrucksvoll waren... glg doc

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