Donnerstag, 23. August 2018

Der singende Teufel.


In den neueren Büchern zur Geschichte des Progressive Rock ist es en vogue geworden, den ungarischen Komponisten und Dirigenten Franz Liszt (1811-1886) als den ersten wahren “Prog-Rocker” zu bezeichnen. Damit gemeint ist nicht nur der Tumult, die Begeisterung und das unbedingte Fantum, das Liszt zu jener Zeit zum absoluten Superstar machte, sondern auch die Pompösität seiner Musik, die sowohl in Form als auch in der Anzahl der Mitwirkenden alle anderen Konzertaufführungen alt und blass aussehen ließ.


Denn: So wie sich der Progressive Rock von Emerson Lake & Palmer, Genesis und Yes am Vorabend der Punkrevolution selbstverliebt in seinem opulenten Schwanengesang badete, feierte die Musik der Romantik in ihren letzten Zuckungen vor der alles zerstörenden Ur-Katastrophe des Ersten Weltkriegs sich selbst und wucherte in die absolute Gigantomanie. Und so wie der Prog-Rock die harten Stiefeltritte des Punk in seiner erhabenen Blase eigentlich unbeschadet überstand, gab es bis in die Zwischenkriegszeit noch romantisch gefärbte und museal anmutende Klangkaskaden diverser Komponisten zu bestaunen.


“Der singende Teufel”, eine 1928 uraufgeführte Oper von Franz Schreker erscheint mir hier als perfektes Sinnbild: Um ein Waldkloster mittelalterlicher Mönche vor den Angriffen paganischer Heiden zu schützen, erbaut ein findiger Instrumentenbauer eine Monsterorgel (den “singenden Teufel”), die durch die Mächtigkeit ihres Klangs die anstürmenden Heiden in die Knie zwingt (wodurch sie von den Mönchen samt und sonders abgeschlachtet werden können). Schreker nimmt hier nicht nur grauenvolle Kriegsinstrumente wie die “Stalinorgel” vorweg, sondern lässt uns auch an den manischen Keith Emerson und die Messerattacken auf seine Synthesizer bei Liveauftritten denken.


Für diese spätromantischen Auswüchse, die sich keiner Zeitepoche zuordnen lassen, wurden von diversen Musikhistorikern (eher wenig schmeichelhafte) Charakterisierungen vorgeschlagen: “Maximalismus” (Richard Taruskin) “Dekadenz” (Stephen Downes), oder gar “terminologischer Schnitzer erster Güte” (Carl Dahlhaus). Diese Kompositionen sind eigenbrötlerische, sture Auflehnungen, gespeist von Richard Wagners Gigantomanie und der Elfenbeinturmhaftigkeit der Programmmusik von Richard Strauss; alles wirklich komplex, kompliziert und genial, aber doch ganz knapp am Rande der Tonalität und in gefährlicher Nähe zu Pathos und Kitsch. Am Rande all dieser Spektakel (die zu ihrer Zeit unglaubliche Publikumserfolge waren!) wartete aber schon längst die Moderne – personifiziert in dem Kritiker und Kulturpessimisten Theodor W. Adorno – begierig darauf, wie die Filmfigur Dr. Caligari einen düsteren Schatten auf all den irrlichternden Glanz zu werfen.


Zwei exemplarische Werke dieser ausufernden Spätromantik sollen hier als Beispiel zitiert werden: Da wären zum Beispiel die “Gurre-Lieder” von Arnold Schönberg, der sich bei der Uraufführung dieses Gewaltwerkes 1913 schon längst vom “romantischen Klangideal” abgewandt und der Atonalität zugewandt hatte. Das Oratorium für fünf Gesangssolisten, Sprecher, Chor und großes Orchester hatte er allerdings in Grundzügen schon 1903 vollendet und machte sich erst nach sieben Jahren Pause an die Instrumentation. Es spricht für die unglaubliche Integrität Schönbergs, dass er seinen früheren Kompositionsstil nicht verwarf, sondern ihn als Teil seiner Entwicklung akzeptierte. 1911 schrieb er: “Dieses Werk ist der Schlüssel zu meiner ganzen Entwicklung. Es zeigt mich von Seiten, von denen ich mich später nicht mehr zeige oder doch von einer anderen Basis. Es erklärt, wie alles später so kommen mußte, und das ist für mein Werk enorm wichtig: daß man den Menschen und seine Entwicklung von hier aus verfolgen kann.” ¹

Die Gurre-Lieder, aufgeführt 2015 in Grieghallen, Bergen.
Die Gurre-Lieder sind in ihrem Klangreichtum und ihrer Komplexität bis heute unerreicht. Die Geschichte um einen König und seine heimliche Liebe nach einer dänischen Volkssage gemahnt mit ihren Leitmotiven an eine Wagner-Oper, nur eben noch viel komplexer und verschlungener ausgedacht: “[...] Die selbständigen Einzellieder [finden] durch thematische Beziehungen zu einer weit gespannten Form zusammen. Den inneren Zusammenhalt bedingt das Wiedererscheinen bestimmter thematischer Bildungen, die eng im jeweiligen Kontext verwoben sind. Liedübergreifende Motive werden immer aus neuen, für das Einzelstück charakteristischen Gedanken gewonnen. [...] Ein weiteres Bindeglied der in sich geschlossenen Einzellieder bilden die Überleitungen. [...] In diesen Techniken manifestiert sich das Prinzip der ›thematischen Entwicklung‹, die sich auf zwei Ebenen abspielt: auf der Ebene des Einzelliedes und auf der des gesamten Werkes.” ²


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Das zweite Beispiel einer sehr späten romantischen “Klangexplosion” kommt von meinem absoluten Lieblingskomponisten, der erst seit einigen Jahren langsam wiederentdeckt wird, trotzdem aber leider weiterhin kaum bekannt ist. Es ist Joseph Marx (1882-1964), der in meiner Heimatstadt Graz geboren wurde und dort auch großteils gewirkt hat. Ein Titan seiner Zeit; Komponist, Musikkritiker, guter Freund von Puccini, Ravel, Resphigi und Richard Strauss und einflussreicher Lehrer (mit über 1300 Schülern) – leider wurde ihm posthum seine Namensgleichheit mit dem Münchener Verfasser von Liedern für die Hitlerjugend, Karl Marx, zum Verhängnis. Zum Glück wurde seine Person inzwischen von allen falschen Anschuldigungen befreit und man kann (und sollte unbedingt!) das Werk dieses mehr als einzigartigen Spätromantikers neu entdecken.


Zum Beispiel seine “Herbstsymphonie”, die laut Wikipedia zu den längsten und am üppigsten besetzten symphonischen Werken der Musikgeschichte gehört. ³ Die Uraufführung 1922 in Wien geriet zum Skandal, weil der Dirigent und die Musiker der Wiener Philharmonie mit der Komplexität der Partitur schlicht überfordert waren. ⁴ Danach geriet die Herbstsymphonie in Vergessenheit und erst im Jahr 2005 kam es aufgrund der Bemühungen der Joseph-Marx-Gesellschaft und des steirischen Musikfestivals Styriarte zur erneuten Uraufführung im Stefaniensaal in Graz; 2008 folgte dann die US-Premiere in New York. Leider gibt es bis heute keine Einspielung auf CD, euer Bloghost hat die Radioübertragung des damaligen Konzerts (die einzige Aufführung in der geforderten Mammutbesetzung und ohne Kürzungen) mitgeschnitten und auf Youtube gestellt. Bitte hört euch das an – mehr Klangrausch ist in keiner Musik zu finden. Hier brüllt der singende Teufel aus allen Rohren!




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¹, ² https://www.schoenberg.at/index.php/de/typography/gurre-lieder

³, ⁴ https://de.wikipedia.org/wiki/Eine_Herbstsymphonie

2 Kommentare:

  1. Ich liebe die (späte) Romantik, doch Joseph Marx war mir bisher nicht bekannt...vielen Danke für die Inspiration!

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