Sonntag, 21. Oktober 2018

Grenzgänger.

Das Wort “Grenzgänger” gefällt mir gerade in der heutigen Zeit ziemlich gut - wenn nämlich alle Staaten am liebsten ihre Grenzen schliessen möchten, um ihre illusionären “Festungen” zu beschützen, ist es wichtiger denn je, Grenzen zu überqueren, offen zu sein für neue Kulturen, Ansichten oder Erkenntnisse.


Der Begriff bezeichnet in Wahrheit die sogenannten “Grenzpendler”, die in einem Land leben und im angrenzenden Land arbeiten; allerdings auch im übertragenen Sinn jemanden, der sich zwischen verschiedenen “Bereichen, Feldern oder Konzepten bewegt.” ¹ Und da sind wir schon wieder bei meinem derzeitigen Lieblingsthema Dub angelangt; denn hier gibt es ein paar prägnante Künstler, die alle Merkmale dessen mit anderen Musikstilen verbunden und vermischt haben - das Ergebnis ist eine absolute Bereicherung für den neugierigen Hörer, so wie euer Bloghost ja einer ist.


Starten wir unser kleines Showcase zum Thema mit einem kanadischen Ausnahmetalent namens Ryan Moore. Der Multiinstrumentalist und Studio-Wizard wurde in den 1980er-Jahren in London vom Dub-Virus infiziert, wurde zum leidenschaftlichen Dubplate-Sammler und experimentierte auch schon damals mit ersten eigenen Tracks. Moore war Schlagzeuger und Bassist in einer der profiliertesten und spannendsten experimentellen Psychedelic-Bands Europas - den Legendary Pink Dots, bevor er seine Karriere als Sideman mehr oder weniger an den Nagel hängte, um sich ganz seiner allergrössten Leidenschaft, dem Dub zu widmen.


1995 erschien dann der erste Release als “Twilight Circus”; unter diesem Namen hat Moore bis heute 28 (!) Alben veröffentlicht (ganz abgesehen von den unzähligen Singles und 10-inches), hat mit zahlreichen wichtigen Reggae-Produzenten und -Sängern kollaboriert und ist als Produzent u.a. von Michael Rose und Ranking Joe in Erscheinung getreten. Stilistisch ist der Twilight Circus jenen zu empfehlen, die es im Dub schwer und langsam mögen: Die dick verhallte Atmosphäre mit den fetten Drumbeats und den ultratiefen Basslines erinnert an den leider kurzlebigen Illbient - konsequenterweise war Moore auch auf einem der drei Crooklyn Dub-Sampler auf Wordsound vertreten. ²


Die Stilvielfalt Moores geht zwar nicht ganz so weit wie die abenteuerlichen Produktionen Adrian Sherwoods auf On-U Sound-Records, aber man merkt natürlich die Vergangenheit bei den Legendary Pink Dots; konsequenterweise hat Moore auch 2013 mit deren Sänger Edward Ka-Spel gemeinsam ein sehr experimentell gehaltenes Album aufgenommen (Edward Ka-Spel Meets Twilight Circus - 800 Saints In A Day).



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Von Kanada reisen wir im Ganjamobil nach England: In London sitzt dort Mike Pelanconi (besser bekannt unter seinem Pseudonym Prince Fatty) in seinem Studio und produziert seit Jahren wunderbare kleine Dub-Perlen (u.a. mit Hollie Cook, dem Drunken Gambler und Mungo's Hi-Fi); unvergesslich und heissgeliebt auch seine Coverversionen diverser Hip Hop-Klassiker wie “Gin and Juice” oder “Insane in the Brain”. Prince Fatty ist einer, der die klassischen, jamaikanischen Dub-Merkmale mit Präzision,Geschick und viel Liebe zum Thema in die heutige Zeit geholt hat. Dass er aber noch zu ganz anderen Großtaten am Rande des Dub fähig ist, beweist die grandiose Kollaboration mit dem ebenfalls in London beheimateten postmodernen Jazz-Kollektiv Nostalgia 77 rund um Produzentengenie Benedic Lamdin.


Der daraus resultierende Release “In the Kingdom of Dub” (2014) ist ein wahres Crossover-Wunder: Funky Jazz wird hier veredelt durch sparsam eingesetzte, aber unglaublich wirkungsvolle Hall-Fahnen. Schimmernde E-Piano-Läufe wechseln sich ab mit grell aufblitzenden Bläsersätzen und kurzen, rauchigen Klangtupfern eines Tenorsaxophons; dazwischen locken immer wieder ganz bewusst eingesetzte Ruhepunkte, bevor der Cosmic Jazz-Train wieder Fahrt aufnimmt in die nächste Echokammer. Stellenweise erinnert das sogar an diverse Releases auf Brainfeeder, dem Label des ingeniösen Alice Coltrane-Enkels Flying Lotus.



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Damit wieder einmal zu dem wahnsinnigen Universalgenie Lee “Scratch” Perry. Dessen “neuere” Karriere ist zugegebenermassen recht... gewöhnungsbedürftig; viele meiner Kollegen wie der hochgeschätzte René Wynands, der das für Fans unverzichtbare Dubblog betreibt, stehen sogar auf dem Standpunkt, Perry habe seit den 1980er-Jahren nichts mehr wirklich hörenswertes herausgebracht. Natürlich ist Perry als “Sänger” eine Zumutung und man vermisst seine geniale Produzententätigkeit früherer Zeiten immer wieder schmerzlich; wenn sich der über 80-Jährige aber in die richtigen Hände begibt, kann daraus aber durchaus auch noch heute ein richtiges Juwel entstehen.


Ich beziehe mich hier speziell auf ein “Randprodukt” namens “The Orb Featuring Lee Scratch Perry: Present The Orbserver In The Star House” aus dem Jahr 2012: Die beiden Electronica-Legenden Alex Patterson und Thomas Fehlmann haben darauf das Experiment gewagt, mit der Dub-Legende eine gemeinsame Platte aufzunehmen. Sie gehen dabei extrem klug vor und verwenden Perry nur als Samplequelle, um die herum sie die von The Orb gewohnten trancigen Beats gebaut haben. Während Wynands urteilt: “Die elektronischen Orb-Beats und Perrys scharfer, weitgehend melodiefreier Gesang harmonieren wie Apfelkuchen und Tabasco – nämlich gar nicht” ³, halte ich es eher mit Rick Anderson von allmusic.com: “The approach is dubwise, but the result is unique -- it simultaneously pushes familiar musical buttons and sounds like nothing else that has come before. Listening to this album is a bit like eating comfort food from an alien planet”. ⁴


Meiner bescheidenen Meinung nach ist das Resultat dieser Kollaboration einfach unwiderstehlich. Thomas Fehlmann hat ja das gottgegebene Talent, elektronische Songs mit absolutem Suchtfaktor zu basteln (man denke nur an “Honigpumpe”) und so ist man selbst bei so banalen Weisheiten Perrys wie “If you're thirsty, drink some water” irgendwie ergriffen, weil die Musik dazu einfach so wunderbar herzlich swingt! The Orb selber scheinen sich des Endresultats allerdings auch nicht ganz sicher gewesen zu sein, da sie bald darauf eine weitere Version des Albums herausgebracht haben, auf dem auch sämtliche Tracks auch als Instrumentalversionen enthalten waren. Das finde ich unnötig, weil hier einfach etwas fehlt (Perrys Gebrabbel nämlich) aber dafür finden sich auf der “In Dub”-Version wiederum tatsächlich auch sehr schöne Dub-Remixes von Deadbeat und Mad Professor.



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