Freitag, 26. Oktober 2018

The Orb - Orbus Terrarum.


Lass uns kurz zurückblicken auf das Rave-Zeitalter Großbritanniens: Dessen grosse Zeiten sind zwar lange vorbei, immer noch aber existieren die drei grossen Institutionen Underworld, Orbital und The Orb, die auch heute noch die Stadien auf der Insel füllen. Underworld machten sich mit dem Titelsong “Born Slippy” für Danny Boyles “Trainspotting” unsterblich und sorgten mit den extralangen Versionen ihrer Technohymnen für Ekstase bei eurem Bloghost, bevor mein Interesse über die Jahre langsam, aber stetig nachliess - zu harmonisch, zu stromlinienförmig war mir ihre Musik dann irgendwann geworden.  

Und Orbital habe ich ganz ehrlich niemals verstanden: Da waren diese zwei Typen mit ihren damals schon nicht mehr so richtig coolen Brillen mit eingebauten Strahlern (die sie bei Auftritten übrigens heute noch tragen) und machten Musik, wie sie oberflächlicher und durchschaubarer nicht sein könnte. Selbst das in den 1990er-Jahren in der Dance Music so beliebte und verkaufsträchtige “Ambient-IDM-Drogen-Mystik”-Etikett, welches sozusagen auch auf den Releases von Orbital klebte, konnte mir diese dünne, vorhersehbar auf Mitgröhl-Hymnen getrimmte Rave-Suppe nicht schmackhaft machen.

The Orb zur Zeit von "Little Fluffy Clouds" (Foto von soundonsound.com)
The Orb nahm ich überhaupt nicht wahr, weil ich die damals einfach mit Orbital verwechselte. Aber ihr kennt das ja sicher, wenn man sehr spät auf etwas stösst und es dann “so richtig im Gebälk raschelt” - genau das war meinerseits bei The Orb der Fall. Entdeckt habe ich die erst über Produzent Thomas Fehlmann, dessen Release “Honigpumpe” 2007 bei mir für endlose Begeisterung sorgte - selten habe ich “Techno” so warm, organisch und individuell wahrgenommen. Beim Stöbern nach anderen Releases des Schweizer Altmeisters kam ich dann natürlich auf Alex Paterson, dessen Partner in The Orb Fehlmann seit den 1990er-Jahren immer wieder war (aufgeführt in den Liner Notes der entsprechenden Releases als “Floating Member”).

The Orb (Foto von thequietus.com)
The Orb als “Projekt” und sämtliche Releases sind ein rhizomatisches Konstrukt, wenn ich diesen Begriff (wie in meinen Artikeln über Legowelt) wieder einmal verwenden darf - hierarische Bandstrukturen oder ein klar umrissener musikalischer Style sind schwer zu definieren, was daran liegt, daß Gründungsmitglied Alex Paterson The Orb immer offengehalten hat; als kollaboratives Projekt, in dem durchaus auch er selbst hinter die rasch wechselnden Mitmusiker zurückgetreten ist. Die ständig wechselnden Produktionsmethoden und grundsätzliche stilistische Aufgeschlossenheit (brennende Neugier, wie es manchmal scheint) machen The Orb zu einer Quelle ständiger Überraschungen für den Zuspätgekommenen, der das gewaltige Werkverzeichnis im Nachhinein erschliessen will.

Alex Paterson und Thomas Fehlmann (foto von dublab.com)
“Orbus Terrarum”, der dritte Studiorelease aus dem Jahr 1995, geht weiter als alles, was The Orb zuvor und später je gemacht haben. Jeder einzelne Track ist mit einer Bootsreise auf einem Fluss zu vergleichen. Drumloops, atmosphärische Pads und Sprachsamples verdichten sich zu Songs, hinter der nächsten Biegung aber lösen die sich sofort wieder auf. Als Passagier dieser Nussschale sollte man sich ja nicht zu sehr in Sicherheit wiegen - der ruhig dahinfliessende Strom kann jederzeit blitzschnell zu einem reissenden Monster werden. Und daß The Orb Jahre später mit der Dub-Legende Lee “Scratch” Perry kollaboriert haben (siehe meinen Artikel hier), versteht man bereits, wenn man die frühen Releases hört - da jagen und multiplizieren sich die Echo- und Hallfahnen, daß es eine reine Freude ist.

Der Klick auf das Video öffnet rechts daneben die gesamte YT-Playlist.

“Orbus Terrarum” galt zu seinem Erscheinen in der britischen Presse als Totalflop, als Aberration - der Verzicht auf das von determinierten Hörgewohnheiten Erwartete liess Fans und Kritiker auf der Insel total ratlos zurück. Anders in den USA: Der Rolling Stone wählte “Orbus Terrarum” damals zur Platte des Monats ¹. Ganz klar, die extralangen Songs verlangen dem geneigten Hörer einiges ab; die Architektur erkennbarer Strukturen ist größtenteils verhüllt. Doch das inhärente Versprechen von Bands wie The Orb, ihr Publikum an unbekannte Sound-Gestade zu katapultieren, wurde niemals konsequenter eingelöst als hier. Ich möchte auf keinen Fall irgendwelche ausgelatschten Stoner-Klischees bemühen, in vorliegendem Fall bleibt mir aber einfach keine Wahl: Ja, das ist Musik, gemacht von Stonern für Stoner. Wenn man sich in einen veränderten Bewusstseinszustand begibt, öffnet man sich für ein größeres Soundfeld - und an diesen Grenzen zum Unendlichen operieren The Orb und öffnen Passagen in bisher unbekannte Realitäten.

***

Kauft euch “Orbus Terrarum”! Ich würde übrigens dringend zu der 2008 erschienenen “Remastered und Expanded Edition” raten, einfach deswegen, weil da noch viel mehr dieser genialen Musik enthalten ist. Kann man über die Homepage von The Orb bestellen.


¹ Kritik im Rolling Stone 200495 (Web Archive)

Sonntag, 21. Oktober 2018

Grenzgänger.

Das Wort “Grenzgänger” gefällt mir gerade in der heutigen Zeit ziemlich gut - wenn nämlich alle Staaten am liebsten ihre Grenzen schliessen möchten, um ihre illusionären “Festungen” zu beschützen, ist es wichtiger denn je, Grenzen zu überqueren, offen zu sein für neue Kulturen, Ansichten oder Erkenntnisse.


Der Begriff bezeichnet in Wahrheit die sogenannten “Grenzpendler”, die in einem Land leben und im angrenzenden Land arbeiten; allerdings auch im übertragenen Sinn jemanden, der sich zwischen verschiedenen “Bereichen, Feldern oder Konzepten bewegt.” ¹ Und da sind wir schon wieder bei meinem derzeitigen Lieblingsthema Dub angelangt; denn hier gibt es ein paar prägnante Künstler, die alle Merkmale dessen mit anderen Musikstilen verbunden und vermischt haben - das Ergebnis ist eine absolute Bereicherung für den neugierigen Hörer, so wie euer Bloghost ja einer ist.


Starten wir unser kleines Showcase zum Thema mit einem kanadischen Ausnahmetalent namens Ryan Moore. Der Multiinstrumentalist und Studio-Wizard wurde in den 1980er-Jahren in London vom Dub-Virus infiziert, wurde zum leidenschaftlichen Dubplate-Sammler und experimentierte auch schon damals mit ersten eigenen Tracks. Moore war Schlagzeuger und Bassist in einer der profiliertesten und spannendsten experimentellen Psychedelic-Bands Europas - den Legendary Pink Dots, bevor er seine Karriere als Sideman mehr oder weniger an den Nagel hängte, um sich ganz seiner allergrössten Leidenschaft, dem Dub zu widmen.


1995 erschien dann der erste Release als “Twilight Circus”; unter diesem Namen hat Moore bis heute 28 (!) Alben veröffentlicht (ganz abgesehen von den unzähligen Singles und 10-inches), hat mit zahlreichen wichtigen Reggae-Produzenten und -Sängern kollaboriert und ist als Produzent u.a. von Michael Rose und Ranking Joe in Erscheinung getreten. Stilistisch ist der Twilight Circus jenen zu empfehlen, die es im Dub schwer und langsam mögen: Die dick verhallte Atmosphäre mit den fetten Drumbeats und den ultratiefen Basslines erinnert an den leider kurzlebigen Illbient - konsequenterweise war Moore auch auf einem der drei Crooklyn Dub-Sampler auf Wordsound vertreten. ²


Die Stilvielfalt Moores geht zwar nicht ganz so weit wie die abenteuerlichen Produktionen Adrian Sherwoods auf On-U Sound-Records, aber man merkt natürlich die Vergangenheit bei den Legendary Pink Dots; konsequenterweise hat Moore auch 2013 mit deren Sänger Edward Ka-Spel gemeinsam ein sehr experimentell gehaltenes Album aufgenommen (Edward Ka-Spel Meets Twilight Circus - 800 Saints In A Day).



***


Von Kanada reisen wir im Ganjamobil nach England: In London sitzt dort Mike Pelanconi (besser bekannt unter seinem Pseudonym Prince Fatty) in seinem Studio und produziert seit Jahren wunderbare kleine Dub-Perlen (u.a. mit Hollie Cook, dem Drunken Gambler und Mungo's Hi-Fi); unvergesslich und heissgeliebt auch seine Coverversionen diverser Hip Hop-Klassiker wie “Gin and Juice” oder “Insane in the Brain”. Prince Fatty ist einer, der die klassischen, jamaikanischen Dub-Merkmale mit Präzision,Geschick und viel Liebe zum Thema in die heutige Zeit geholt hat. Dass er aber noch zu ganz anderen Großtaten am Rande des Dub fähig ist, beweist die grandiose Kollaboration mit dem ebenfalls in London beheimateten postmodernen Jazz-Kollektiv Nostalgia 77 rund um Produzentengenie Benedic Lamdin.


Der daraus resultierende Release “In the Kingdom of Dub” (2014) ist ein wahres Crossover-Wunder: Funky Jazz wird hier veredelt durch sparsam eingesetzte, aber unglaublich wirkungsvolle Hall-Fahnen. Schimmernde E-Piano-Läufe wechseln sich ab mit grell aufblitzenden Bläsersätzen und kurzen, rauchigen Klangtupfern eines Tenorsaxophons; dazwischen locken immer wieder ganz bewusst eingesetzte Ruhepunkte, bevor der Cosmic Jazz-Train wieder Fahrt aufnimmt in die nächste Echokammer. Stellenweise erinnert das sogar an diverse Releases auf Brainfeeder, dem Label des ingeniösen Alice Coltrane-Enkels Flying Lotus.



*** 

Damit wieder einmal zu dem wahnsinnigen Universalgenie Lee “Scratch” Perry. Dessen “neuere” Karriere ist zugegebenermassen recht... gewöhnungsbedürftig; viele meiner Kollegen wie der hochgeschätzte René Wynands, der das für Fans unverzichtbare Dubblog betreibt, stehen sogar auf dem Standpunkt, Perry habe seit den 1980er-Jahren nichts mehr wirklich hörenswertes herausgebracht. Natürlich ist Perry als “Sänger” eine Zumutung und man vermisst seine geniale Produzententätigkeit früherer Zeiten immer wieder schmerzlich; wenn sich der über 80-Jährige aber in die richtigen Hände begibt, kann daraus aber durchaus auch noch heute ein richtiges Juwel entstehen.


Ich beziehe mich hier speziell auf ein “Randprodukt” namens “The Orb Featuring Lee Scratch Perry: Present The Orbserver In The Star House” aus dem Jahr 2012: Die beiden Electronica-Legenden Alex Patterson und Thomas Fehlmann haben darauf das Experiment gewagt, mit der Dub-Legende eine gemeinsame Platte aufzunehmen. Sie gehen dabei extrem klug vor und verwenden Perry nur als Samplequelle, um die herum sie die von The Orb gewohnten trancigen Beats gebaut haben. Während Wynands urteilt: “Die elektronischen Orb-Beats und Perrys scharfer, weitgehend melodiefreier Gesang harmonieren wie Apfelkuchen und Tabasco – nämlich gar nicht” ³, halte ich es eher mit Rick Anderson von allmusic.com: “The approach is dubwise, but the result is unique -- it simultaneously pushes familiar musical buttons and sounds like nothing else that has come before. Listening to this album is a bit like eating comfort food from an alien planet”. ⁴


Meiner bescheidenen Meinung nach ist das Resultat dieser Kollaboration einfach unwiderstehlich. Thomas Fehlmann hat ja das gottgegebene Talent, elektronische Songs mit absolutem Suchtfaktor zu basteln (man denke nur an “Honigpumpe”) und so ist man selbst bei so banalen Weisheiten Perrys wie “If you're thirsty, drink some water” irgendwie ergriffen, weil die Musik dazu einfach so wunderbar herzlich swingt! The Orb selber scheinen sich des Endresultats allerdings auch nicht ganz sicher gewesen zu sein, da sie bald darauf eine weitere Version des Albums herausgebracht haben, auf dem auch sämtliche Tracks auch als Instrumentalversionen enthalten waren. Das finde ich unnötig, weil hier einfach etwas fehlt (Perrys Gebrabbel nämlich) aber dafür finden sich auf der “In Dub”-Version wiederum tatsächlich auch sehr schöne Dub-Remixes von Deadbeat und Mad Professor.



***




Freitag, 19. Oktober 2018

Cosmic Disco.

Ein Artikel in der Zeitschrift Electronic Sound über das unter älteren Geeks immerdar beliebte Thema “Space Music”, also die Beeinflussung diverser Musikstile durch Science Fiction, hat mich in meiner Fantasie plötzlich an einen wunderbaren Ort versetzt: Nach Rimini!

Es ist ein heisser Sommer in Italien im Jahr 1980, ungezählte schwabbelige, weiße Bäuche und Busen aus Deutschland und Österreich quetschen sich wie Sardinen auf den Liegestühlen am Sandstrand, es riecht nach Salz und billigem Sonnenöl. Überall schmilzt und tropft Softeis, aus kleinen Radiolautsprechern und in den Kopfhörern der quietschbunten Walkmans plärren Songs über unsterbliche Amore. Die Jugendlichen haben sich in die Spielhalle verzogen, dort wird eifrig an diversen Automaten Space Invaders, Asteroids, Defender oder Pac Man gedaddelt. Und am Abend, wenn die ältere Generation dann ihren Sonnenbrand mit Spaghetti und viel billigem Rotwein kühlt, trifft man sich in einer der vielen Discotheken zum Tanz und zum Verlieben.


In Rimini wird in diesem Jahr tatsächlich Dancefloor-Geschichte geschrieben. Ein neuer Style ist am Entstehen, und das schwitzende Kind wurde auch schon getauft: “Cosmic Disco”; ein hochtrabender Begriff, der zeigen soll, wie ernst junge, erfolgshungrige Discjockeys wie Daniele Baldelli, Beppe Loda, DJ Mozart oder DJ Rubens ihr Metier nehmen. Hier werden nicht die neuesten Discohits aus Amerika abgenudelt. Im Gegenteil: “Eines der wichtigsten Elemente dieses Old-School-Cosmic war der Gedanke der Komposition im Sinne der klassischen E-Musik. Damals erarbeiteten die DJs für jeden ihrer Auftritte eigene einstündige Kompositionen, die ähnlich wie in der klassischen Komposition ein Opening, Steigerungen, Höhepunkte und ein Finale enthielten. Die „Instrumente“ waren dabei Sound-Versatzstücke, das Auflegen eher ein „Komponieren“ im Vergleich zum heutigen Recycling eigener Re-Mixes.” ¹

Daniele Baldelli in seiner "Cosmic DJ Booth", 1980
Die stilistischen Elemente sind vielfältig - von (Afro-)Funk, Soul und US-Disco über Electronica, Krautrock, Jazz und sogar klassischer Musik wird alles verwurstet, was nur einigermassen groovy zu machen ist. Interessant an "Cosmic Disco" finde ich aber vor allem die unglaubliche Langsamkeit: Mehr als 90 -100 Beats per Minute sind einfach nicht drin, das ist noch gemütlicher als House. Aber nicht nur deswegen gilt dieser Stil heute schon als Outsider Music. Es mag auch daran liegen, das die “Kunst” aus Cosmic Disco sehr schnell wieder verschwand, und dem üblichen Motto aller Discotheken an diversen Ferienorten, “Feiern, Tanzen, Saufen”, Platz machen musste. So blieb der Siegszug in Richtung ganze Welt und dann auch Universum irgendwo zwischen Norditalien und Südtirol stecken und wich schnell dem viel prosaischeren Italo House.


Erschwerend kam noch hinzu, daß damals im Rest Europas plötzlich alles an tanzbarer Musik ebenfalls kurzfristig irgendwie zu “Space” wurde. “Space Disco” ist zwar als eigener Stil schwer festzumachen, als Einfluß auf unzählige, damalige Produktionen von Ganymed bis Boney M. aber essentiell. So ist Cosmic Disco also heute eine Nische, nach der man aktiv suchen muß. Hin und wieder findet man Daniele Baldelli als DJ auf diversen Groß-Events; und wenn der Altmeister einen guten Tag hat, groovt er immer noch sehr kosmisch, auch wenn das anwesende Publikum nicht so recht zu wissen scheinen, ob man sich bei dieser immer noch konsequent langsamen Musik auch bewegen soll, oder doch lieber ein Bier trinken gehen.

  DJ-Set von Daniele Baldelli, umrahmt von zwei italienischen Grazien.

Zum Abschluß noch ein Disclaimer in eigener Sache: So einen Urlaub in Rimini habe ich nie selber erlebt - unsere damals streng katholische, strikt auf Sparsamkeit ausgerichtete Familie fuhr immer nach Kroatien, in damals noch touristisch kaum erschlossene Ferienorte. Statt Sandstrand, Softeis, Comics vom Kiosk, Spielhallen und Discos mit hübschen Mädchen in die man sich unsterblich verlieben konnte gab es bei dort nur sterbenslangweilige Fischerorte mit alten Frauen, die versonnen ihr Spinnrad betätigten. Und spitze Steine, Spinnen, Skorpione und Fischgerichte mit viel Gräten. Vermutlich werde ich wegen dieser Sehnsucht nach verpassten Gelegenheiten meiner Jugend noch immer vollkommen manisch, wenn ich nur die Titelmelodie von Captain Future höre.


***

   Daniele Baldelli auf Mixcloud.

Dienstag, 18. September 2018

Diaspora mit Sly & Robbie.

Als zu Beginn der 1980er-Jahre der MIDI-Standard¹ eingeführt wurde, war der Jubel von Musikern und Produzenten grenzenlos. Endlich konnte man komponieren, ohne sich um eine echte “Band” oder gar ein “Orchester” kümmern zu müssen. Diese Reaktion ist vollkommen verständlich, da der Einzug der digitalen Technologie ökonomische Unabhängigkeit und grenzenlose Kreativität versprach.


Andererseits fragt man sich heute, ob damals die gesamte Musikindustrie vor Begeisterung auf ihren Ohren gesessen ist: Die digitalen Sounds sind natürlich nicht der geringste Ersatz für “echte” Instrumente, auch wenn man das damals geglaubt zu haben scheint.

Als Beispiel möge man sich hier einen kurzen Auschnitt von Frank Zappas posthum veröffentlichtem Doppelalbum “Civilization Phaze III” gönnen. Der geniale Performer und Komponist hatte zwar 1986 mit “Jazz from Hell” wirklich originelle Sounds aus seinem unleistbar teurem Synclavier herausgeholt, in den darauffolgenden Jahren jedoch auch kaum anzuhörende “Midi-Opern” komponiert. Heutzutage klingt das auch kaum mehr nach Zappa, sondern (wie viele andere Musikstücke aus jener Zeit, die digitale Technologien benutzten), eher nach einem Soundtrack zu einem 8-Bit-Videospiel.


Auch in Jamaika war es ab Mitte der 1980er-Jahre vorbei mit analog produziertem Dub. Die originellen Releases von Hopeton Overton Brown unter dem Namen “Scientist” markieren hier Höhepunkt und zugleich auch Endpunkt der Zeit der grossen Dub-Produzenten aus Kingston. Mit Dancehall wurde damals ein Musikstil populär, der den Fokus eher auf Vocals und die Performance des MCs legte als auf die Musik.


Gleichzeitig hatten auf der Insel ebenso Drumcomputer und digitale Soundbibliotheken Einzug gehalten, die es möglich machten, diverse Tracks in großer Geschwindigkeit ohne die legendären “Hausbands” unter das Volk zu werfen. Aus den dünnen neuen Sounds entstand dann auch gleich eine neue Spielart des Dub, die ich bis heute schlicht unanhörbar finde: der sogenannte Digidub. Nicht, daß ich gegen elektronische Sounds im Dub wäre, im Gegenteil; aber wenn statt der wuchtigen Drums und Bässe dünne Digitalsounds aus den Boxen fiepen - da mag das Soundsystem noch so groß und laut sein wie es will, Stimmung will da keine aufkommen.


Aber: Dub hat eine Eigenschaft, die ihn zu den ganz grossen, wichtigen Musikstilen des 20. Jahrhunderts gemacht hat - er hat die Fähigkeit, andere Musik zu durchdringen und nachhaltig zu beeinflussen. Als das “Mutterland” sich in den 1980er-Jahren vom Dub ab- und anderen Spielarten des Reggae zuwandte, war durch die Migration vieler Jamaikaner nach England dort längst eine eigenständige Reggae-Szene entstanden, und das betraf natürlich auch den Dub. Von Jah Shaka bis zu Adrian Sherwood, das Uk Dub-Thema ist zu riesig, um in ein paar Nebensätzen abgehandelt zu werden. Für diesmal soll die Anerkennung genügen, daß der Dub abseits seiner jamaikanischen Roots in Großbritannien erst so richtig aufzublühen begann, und seine verhallte Saat danach in alle Ecken und Winkel der Musik und der Welt ausstreute.

***

Im folgenden ein paar prägnante Beispiele für Dub, der sich in die Populärmusik der vergangenen Jahrzehnte perfekt integriert und sie auf eine neue Stufe gehoben hat. Am besten demonstriert man das anhand von Sly Dunbar und Robbie Shakespeare, jenem legendären Gespann, das schon seit Urzeiten den Dub mit seinen zwei wichtigsten Elementen versorgt hat, Bass und Schlagzeug. Bei Sly & Robbie (aka “The Riddim Twins“) schnurrte diese Kombination immer schon wie eine perfekt geölte Nähmaschine und verwuchs so zu einer untrennbaren Einheit, die man quasi in fast jeden Musikstil importieren konnte.


Sly & Robbie haben mit allen Pop-Größen der Welt auf der Bühne und im Studio gespielt: Bob Dylan, Mick Jagger, The Rolling Stones, Joe Cocker, Serge Gainsbourg, Simply Red, Sting, Carlos Santana, Sinéad O'Connor (nur eine kleine Auswahl), sie haben Welthits produziert (“Hey Baby” von No Doubt, diverse Songs für Britney Spears oder sogar für Paul McCartney) und sie haben durch ihre spezielles Spiel so manchen Pop-Release auf einer andere Stufe gestemmt und zu Kult gemacht, z.b. als Rhythmusgruppe der schillerndsten Diva von allen, Grace Jones.


Unglaublich faszinierend sind Sly & Robbie im Jazz-Kontext. Die Supergroup des norwegischen Trompeters Nils Petter Molvaer mit den beiden Herren ist so ziemlich das aufregendste, was man seit langer Zeit in diesem Genre gehört hat; hier darf man sogar Vergleiche ziehen zu den wilden Bands von Miles Davis in seiner “elektrischen” Phase in den 1970er-Jahren.


Dieses unglaublich tighte Reggae-Gespann ist allerdings leider auch für ziemlich geschmacklose Releases verantwortlich - immer wenn die beiden Grammy-Gewinner auf der Welle des Erfolgs schwammen, versuchten sie natürlich, diesen auch mit diversen Werken unter ihrem Namen weiter voranzutreiben. Hier zeigt sich eben auch, das Sly & Robbie nicht besonders geschmackssicher sind. Umso wichtiger ist es, daß sich die in Ehren ergrauten Riddim Twins in die Hände eines besonderen Produzenten begeben.


Das haben sie zum Beispiel einmal in den 1990er-Jahren getan; mit einem, der eigentlich mit Dub nicht soviel am Hut hatte, davon abgesehen aber allgemein als Genius anerkannt war: Howie B (Produzent u.a. von Björk, U2 oder Tricky) hat dann auch mit “Sly and Robbie drum & bass Strip to the Bone by Howie B” im Jahr 1999 meiner Meinung nach den Release abgeliefert, der Sly & Robbie als wichtige und ewig gültige Grösse am Dancefloor abseits des Dub-Genres etabliert hat, zwischen der andersweltlichen Abgehobenheit des Trip Hop und manisch tuckernden Disco-Stampfern. Und er hat den beiden Veteranen auch ein Element zurückgegeben, das in den Jahren der vielen Hit-Releases vielleicht ein wenig verloren ging: das jahrhundertealte afrikanische Erbe, ohne welches kein Reggae, kein Dub oder vielleicht auch überhaupt keine Pop-Musik überhaupt denkbar wäre.

***

¹ Musical Instrument Digital Interface: digitale Schnittstelle für Musikinstrumente, eingeführt 1982.
  https://de.wikipedia.org/wiki/Musical_Instrument_Digital_Interface

Dienstag, 4. September 2018

Kung Fu!


KUNG FU! Kaum ein anderes Wort bringt die Augen eures Bloghosts so zum Leuchten wie dieses! Und das immer noch, nach so vielen Jahren. Die entsprechenden Filme, Videospiele und Comics begleiten mich schon mein Leben lang. Die Serie mit David Carradine. Der legendäre Song von Carl Douglas. Die Kultfilme mit Bruce Lee (oder wahlweise mit seinen Klonen Bruce Le, Bruce Li und wie sie alle hießen, alleine das ein unfaßbar geniales Thema ¹), “Die 36 Kammern der Shaolin” und alles andere von den grandiosen Shaw Brothers aus Hongkong. Mein ewiger Lieblingsfilm: “Die 7 goldenen Vampire” aus den britischen Hammer Studios. Und natürlich die ultimative Verneigung, “Kill Bill” von Quentin Tarantino, auf dessen oftmals angekündigten dritten Teil ich ja noch immer sehnsüchtig warte.


Den Kung Fu-Film als solches mag es nicht mehr geben, Spuren davon finden sich aber in jedem Action-Streifen, wie zum Beispiel in den ultrabrutalen Kämpfen in den indonesischen “The Raid”-Filmen. Comics gibt es natürlich auch, unzählige Ausgaben von “Lone Wolf and Cub”, Marvels “Master of Kung Fu” (welches ich sehr gerne in den neu aufgelegten digitalen Editionen lese) und die wunderschön gezeichneten Abenteuer von Danny Rand alias Iron Fist.


Die Kung Fu-Welle ist in den 1970er-Jahren übrigens auch in Jamaica unglaublich populär gewesen; die bitter arme Bevölkerung konnte sich mit den exotischen Underdogs aus Fernost unglaublich gut identifizieren. Wir wissen zum Beispiel, daß Lee “Scratch” Perry ein fanatischer Bruce Lee-Fan war, und sich 1975 (zum Glück für uns Verehrer) zu der legendären Schallplatte “Kung Fu meets the Dragon” inspirieren ließ.


Perry war nicht der einzige Kung Fu-begeisterte Reggae/Dub-Produzent. 2004 erschien eine wunderbare Trojan-Compilation mit dem Titel “Kung Fu! Reggae vs. The Martial Arts”, auf der sich nicht nur Lloyd Parks Reggaeversion von “Kung Fu Fighting” befindet, sondern auch so grandiose Nuggets wie “Hap Ki Do” von Big Youth, “Karate” von Dave & Ansel Collins und “Black Belt Jones” (The Upsetters), ein Tribut an den in den 1970ern immens populären Blacksploitation-Star Jim Kelly. Der Karatelehrer hatte 1973 eine Rolle in “Enter The Dragon”, bevor seine eigene Karriere im Jahr darauf in “Black Belt Jones” (dt. “Freie Fahrt ins Jenseits”) im Schmuddelkino begann.

 

“Kamikazi Dub” von Prince (King) Jammy wollen wir nicht vergessen - der Bezug zum Thema Kung Fu ist hier allerdings eher in so fantasievollen, reizend falsch geschriebenen Klischee-Titeln wie “Shoalin Temple”, oder “Oragami Black Belt” zu finden, während die Musik wahllos aus einer der unzähligen Dub-Sessions des Meisterproduzenten stammen dürfte. Das Cover wiederum entschädigt für alles.


2012 erschien ein weiterer wichtiger Release in diesem von mir so hochgeschätzten Sub-Sub-Genre, noch dazu von meinem Lieblingsproduzenten, Prince Fatty: "Prince Fatty vs The Drunken Gambler". Da gab es sogar eine richtig coole Story: "A true tale of betrayal and revenge. When Prince Fatty discovers that his former master has indeed turned to the dark side, a broken oath releases 10 fatal strikes of Sound System Specials. Only Prince Fatty can stop the Drunken Gambler's evil plan, but to do so, he must first battle the deadly team of “Disco Monks” that will stop at nothing in the service of their overlord.


No mercy is shown as Daddy Horseman strikes the blood stained swords of arch rivals and sworn enemies. Backed by the 'Supersized' assasins and the Mutant Hi- Fi, each having their unique kung fu style and weapons in an epic sound system battle lasting over 30 mins. Featuring Studio One legend Winston Francis and George Dekker from the Pioneers as the invincible Twins of Fury, Hollie Cook as the deadly Angel of Vengeance and as special guest, the infamous Dennis Alcapone
."
²

*** 

¹ http://clonesofbrucelee.co.uk/?i=2

² Text von Bandcamp.

Donnerstag, 30. August 2018

1x1.

Heiliger Gral: Das Mischpult von King Tubby (1941-1989)
Das 1x1: Dub ist eine Spielart des jamaikanischen Reggae, bei der von fertigen Songs mittels Mischpult-Manipulationen Spuren teilweise oder ganz weggelassen werden; gewisse Sounds wiederum werden mittels Echo- und Hall-Effekten überbetont. So entsteht ein neuer Track bzw. eigentlich eine neue Art von Musik. Hat man sich einmal an die kargen Soundlandschaften und die schleppenden Grooves gewöhnt, ist das Level für weitere Entdeckungen geschaffen: Mitten in diesen an den Mond gemahnenden Szenerien befinden sich jede Menge Portale, mittels denen man überallhin reisen kann, in den unendlichen Kosmos oder sogar in andere Dimensionen (als Reisevorbereitung wird der Genuß entsprechender 420er-Technologie ausdrücklich empfohlen).


Der berühmte Reggae-Bassist Robbie Shakespeare hat das einmal sehr schön beschrieben: "...[It’s a music that] fuck up the head! It blow your mind like you dey ’pon drugs! It put you ’pon a different level, a different planet. You can feel like you’s a space man, sometime you might feel like you’s a deep sea diver. You can be like in an airplane in ten seconds, it make you feel anyway you want to feel." ¹

Die erste Dub-Aufnahme entstand durch ein Mißgeschick: Der Techniker eines Studios hatte bei einem bestellten Track auf die Gesangsspur vergessen - die unfreiwillige "Instrumentalversion" entwickelte sich schlagartig zum großen Hit bei den Veranstaltungen, bei denen die riesigen Sound Systems die tanzwütigen Jamaikaner unterhielten; und auch ökonomisch war diese Erfindung ideal. Die Studios ersparten sich neue Songs auf den B-Seiten ihrer Singles und die damaligen "Toaster" (DJs) begannen, die Instrumentalversionen dazu zu nutzen, um mittels Mikrofon für zusätzliche Stimmung unter dem Publikum zu sorgen.


Hier wurden nicht nur Blaupausen für den sich später in Amerika entwickelnden Rap geschaffen, auch die Produzenten der diversen Studios in Jamaika wuchsen über sich selbst hinaus. Sie gaben sich fantasievolle, aristokratisch oder wissenschaftlich klingende Namen wie Prince Jammy, King Tubby, Dub Specialist oder Scientist und wurden zu echten Sound-Pionieren: Wenn man sich die Mühe macht, genau hinzuhören, erkennt man in diesen oft recht krude klingenden Frühwerken des Dub so vieles, das sich später in der (westlichen) Pop-Musik etabliert hat.

Bunny "The Striker" Lee an den Reglern.
Man muß sich das bildlich vorstellen: Da saßen diese oft bitter armen Menschen in ihren engen, kochend heißen Holzverschlägen und schufen mit ihrem selbst zusammengelötetem Equipment grandios aufgetürmte, futuristisch klingende Soundscapes; so ziemlich alles, was damals mit unglaublicher Fantasie und Erfinderkunst auf Tonband bzw. auf Acetat (die legendären "Dubplates") gebannt wurde, klingt innovativer als die riesigen Studioproduktionen des Mainstreams in der heutigen Zeit.

                                        
Deswegen funktionieren auch (zumindest für mich) die meisten digitalen Dub-Produktionen der heutigen Zeit einfach überhaupt nicht - da fehlt eben dieser analoge, rauhe und unglaublich spacige Spirit, der damals (so ungefähr von der Mitte der 1970er- bis in die frühen 1980er-Jahre) in Jamaika vorgeherrscht hat. Es ist ein unglaubliches Glück, daß durch den damaligen globalen Siegeszug von Bob Marley im Westen ein großer Bedarf an Reggae- und Dub-Produktionen geherrscht hat; das gibt obsessiven Dub-Freaks wie eurem Bloghost die Möglichkeit, noch viele Jahre zu jagen und zu sammeln und dabei die allerwunderbarsten, erleuchtendsten Entdeckungen zu machen.

***

¹ Veal, Michael: "Dub: Soundscapes and Shattered Songs in Jamaican Reggae", Wesleyan University Press, 2007

Wenn ihr da unterhalb auf den Link klickt (könnt ihr auch am Blog rechts oben machen) kommt ihr zu der ständig wachsenden Dub-Playlist eures Docteurs auf Youtube.

Puffer's Choice: Dub


Donnerstag, 23. August 2018

Der singende Teufel.


In den neueren Büchern zur Geschichte des Progressive Rock ist es en vogue geworden, den ungarischen Komponisten und Dirigenten Franz Liszt (1811-1886) als den ersten wahren “Prog-Rocker” zu bezeichnen. Damit gemeint ist nicht nur der Tumult, die Begeisterung und das unbedingte Fantum, das Liszt zu jener Zeit zum absoluten Superstar machte, sondern auch die Pompösität seiner Musik, die sowohl in Form als auch in der Anzahl der Mitwirkenden alle anderen Konzertaufführungen alt und blass aussehen ließ.


Denn: So wie sich der Progressive Rock von Emerson Lake & Palmer, Genesis und Yes am Vorabend der Punkrevolution selbstverliebt in seinem opulenten Schwanengesang badete, feierte die Musik der Romantik in ihren letzten Zuckungen vor der alles zerstörenden Ur-Katastrophe des Ersten Weltkriegs sich selbst und wucherte in die absolute Gigantomanie. Und so wie der Prog-Rock die harten Stiefeltritte des Punk in seiner erhabenen Blase eigentlich unbeschadet überstand, gab es bis in die Zwischenkriegszeit noch romantisch gefärbte und museal anmutende Klangkaskaden diverser Komponisten zu bestaunen.


“Der singende Teufel”, eine 1928 uraufgeführte Oper von Franz Schreker erscheint mir hier als perfektes Sinnbild: Um ein Waldkloster mittelalterlicher Mönche vor den Angriffen paganischer Heiden zu schützen, erbaut ein findiger Instrumentenbauer eine Monsterorgel (den “singenden Teufel”), die durch die Mächtigkeit ihres Klangs die anstürmenden Heiden in die Knie zwingt (wodurch sie von den Mönchen samt und sonders abgeschlachtet werden können). Schreker nimmt hier nicht nur grauenvolle Kriegsinstrumente wie die “Stalinorgel” vorweg, sondern lässt uns auch an den manischen Keith Emerson und die Messerattacken auf seine Synthesizer bei Liveauftritten denken.


Für diese spätromantischen Auswüchse, die sich keiner Zeitepoche zuordnen lassen, wurden von diversen Musikhistorikern (eher wenig schmeichelhafte) Charakterisierungen vorgeschlagen: “Maximalismus” (Richard Taruskin) “Dekadenz” (Stephen Downes), oder gar “terminologischer Schnitzer erster Güte” (Carl Dahlhaus). Diese Kompositionen sind eigenbrötlerische, sture Auflehnungen, gespeist von Richard Wagners Gigantomanie und der Elfenbeinturmhaftigkeit der Programmmusik von Richard Strauss; alles wirklich komplex, kompliziert und genial, aber doch ganz knapp am Rande der Tonalität und in gefährlicher Nähe zu Pathos und Kitsch. Am Rande all dieser Spektakel (die zu ihrer Zeit unglaubliche Publikumserfolge waren!) wartete aber schon längst die Moderne – personifiziert in dem Kritiker und Kulturpessimisten Theodor W. Adorno – begierig darauf, wie die Filmfigur Dr. Caligari einen düsteren Schatten auf all den irrlichternden Glanz zu werfen.


Zwei exemplarische Werke dieser ausufernden Spätromantik sollen hier als Beispiel zitiert werden: Da wären zum Beispiel die “Gurre-Lieder” von Arnold Schönberg, der sich bei der Uraufführung dieses Gewaltwerkes 1913 schon längst vom “romantischen Klangideal” abgewandt und der Atonalität zugewandt hatte. Das Oratorium für fünf Gesangssolisten, Sprecher, Chor und großes Orchester hatte er allerdings in Grundzügen schon 1903 vollendet und machte sich erst nach sieben Jahren Pause an die Instrumentation. Es spricht für die unglaubliche Integrität Schönbergs, dass er seinen früheren Kompositionsstil nicht verwarf, sondern ihn als Teil seiner Entwicklung akzeptierte. 1911 schrieb er: “Dieses Werk ist der Schlüssel zu meiner ganzen Entwicklung. Es zeigt mich von Seiten, von denen ich mich später nicht mehr zeige oder doch von einer anderen Basis. Es erklärt, wie alles später so kommen mußte, und das ist für mein Werk enorm wichtig: daß man den Menschen und seine Entwicklung von hier aus verfolgen kann.” ¹

Die Gurre-Lieder, aufgeführt 2015 in Grieghallen, Bergen.
Die Gurre-Lieder sind in ihrem Klangreichtum und ihrer Komplexität bis heute unerreicht. Die Geschichte um einen König und seine heimliche Liebe nach einer dänischen Volkssage gemahnt mit ihren Leitmotiven an eine Wagner-Oper, nur eben noch viel komplexer und verschlungener ausgedacht: “[...] Die selbständigen Einzellieder [finden] durch thematische Beziehungen zu einer weit gespannten Form zusammen. Den inneren Zusammenhalt bedingt das Wiedererscheinen bestimmter thematischer Bildungen, die eng im jeweiligen Kontext verwoben sind. Liedübergreifende Motive werden immer aus neuen, für das Einzelstück charakteristischen Gedanken gewonnen. [...] Ein weiteres Bindeglied der in sich geschlossenen Einzellieder bilden die Überleitungen. [...] In diesen Techniken manifestiert sich das Prinzip der ›thematischen Entwicklung‹, die sich auf zwei Ebenen abspielt: auf der Ebene des Einzelliedes und auf der des gesamten Werkes.” ²


***

Das zweite Beispiel einer sehr späten romantischen “Klangexplosion” kommt von meinem absoluten Lieblingskomponisten, der erst seit einigen Jahren langsam wiederentdeckt wird, trotzdem aber leider weiterhin kaum bekannt ist. Es ist Joseph Marx (1882-1964), der in meiner Heimatstadt Graz geboren wurde und dort auch großteils gewirkt hat. Ein Titan seiner Zeit; Komponist, Musikkritiker, guter Freund von Puccini, Ravel, Resphigi und Richard Strauss und einflussreicher Lehrer (mit über 1300 Schülern) – leider wurde ihm posthum seine Namensgleichheit mit dem Münchener Verfasser von Liedern für die Hitlerjugend, Karl Marx, zum Verhängnis. Zum Glück wurde seine Person inzwischen von allen falschen Anschuldigungen befreit und man kann (und sollte unbedingt!) das Werk dieses mehr als einzigartigen Spätromantikers neu entdecken.


Zum Beispiel seine “Herbstsymphonie”, die laut Wikipedia zu den längsten und am üppigsten besetzten symphonischen Werken der Musikgeschichte gehört. ³ Die Uraufführung 1922 in Wien geriet zum Skandal, weil der Dirigent und die Musiker der Wiener Philharmonie mit der Komplexität der Partitur schlicht überfordert waren. ⁴ Danach geriet die Herbstsymphonie in Vergessenheit und erst im Jahr 2005 kam es aufgrund der Bemühungen der Joseph-Marx-Gesellschaft und des steirischen Musikfestivals Styriarte zur erneuten Uraufführung im Stefaniensaal in Graz; 2008 folgte dann die US-Premiere in New York. Leider gibt es bis heute keine Einspielung auf CD, euer Bloghost hat die Radioübertragung des damaligen Konzerts (die einzige Aufführung in der geforderten Mammutbesetzung und ohne Kürzungen) mitgeschnitten und auf Youtube gestellt. Bitte hört euch das an – mehr Klangrausch ist in keiner Musik zu finden. Hier brüllt der singende Teufel aus allen Rohren!




*** 

¹, ² https://www.schoenberg.at/index.php/de/typography/gurre-lieder

³, ⁴ https://de.wikipedia.org/wiki/Eine_Herbstsymphonie

Freitag, 17. August 2018

Die Farben des Lärms.

Der eine oder andere geneigte Leser dieses Blogs dürfte vielleicht schon einmal auf den Begriff ASMR gestoßen sein. ASMR (Autonomous Sensory Meridian Response) ist eine relativ neue Definition und meint in etwa “Sinnesmassage” oder “Hirnorgasmus”. ASMR wird als Akronym im deutschen Sprachraum verwendet, es gibt keine offizielle entsprechende deutsche Übersetzung für den Begriff. ¹


Man kann es aber recht gut beschreiben: Bei manchen Menschen entsteht beim Hören von bestimmten Geräuschen und anderen auditiven Reizen ein Kribbeln auf der Haut, das sich vom Kopf her der Wirbelsäule entlang bis hin zum Gesäß ausbreitet. Beschrieben wird dieses Empfinden oft wie ein angenehmer Gänsehaut-Schauer, der jedoch länger andauert und intensiver wirkt. Die auslösenden Trigger dafür sind zum Beispiel Flüstern, leises Sprechen oder Singen oder das Geräusch, wenn man mit langen Fingernägeln einen Gegenstand berührt. Diese Art der ASMR-Videos hat es auf Youtube immerhin schon auf mehrere Millionen Videos und Millionen von begeisterten Abonnenten gebracht.

 (Hinweis: Unbedingt mit Kopfhörer anhören!)

ASMR scheint für viele stark verbunden mit dieser Art der Youtube-Videos zu sein – dabei gibt es das Phänomen schon viel länger, als es Youtube überhaupt gibt. Ich persönlich bin Anhänger einer ASMR-Variante, die ausschließlich mit “weißem Rauschen” zu tun hat: Meine Hirnmassage beginnt dann, wenn ich irgendwo ein Gebläse erwische, einen Ventilator, einen Heizlüfter. Wenn es dazu noch regnet und blitzt und donnert, befindet sich euer Bloghost quasi im Himmel. Dass man Glücksgefühle empfindet, wenn man einen warmen Luftstrom verspürt, könnte seinen Ursprung wohl in frühkindlichen Erlebnissen von Geborgenheit haben. Viele Menschen lieben zum Beispiel auch das Geräusch und das warme Gebläse eines Föns – ein berühmtes Beispiel ist der deutsche Musiker Herbert Grönemeyer, der gerne zugibt, die besten Songideen am Klavier zu haben, wenn er einen Fön zur Hand hat. ²


Analoge Ventilatoren und Föns sind natürlich the real thing – die Dauernutzung dieser Geräte ist aber selbstverständlich auch eine Kostenfrage. Günstiger ist es da schon, wieder auf Videos auszuweichen. Auf Youtube gibt es White Noise in allen Kombinationen für wirklich jedes Bedürfnis: Regen, Regen mit Donner, Regen mit Donner und Heizlüfter, alle Arten von Ventilatoren, Geräusche von Serverräumen, Geräusche von Zügen, Flugzeugen, ja sogar alle Arten von Landmaschinengeräuschen – die Möglichkeiten sind unendlich. Hier kann man sich je nach Intuition aussuchen, was einem Wohlgefühle bereitet. Man kann aber auch vorher schon ein bisschen Analyse betreiben – indem man sich mit dem “Grundstoff”, also dem Rauschen – ein wenig näher auseinandersetzt.

Photo von researchgate.net.
Die ganzen physikalischen Definitionen lassen wir dabei weg – es gibt eine Analogie, welche die ganzen Spektren des Noise recht gut veranschaulicht, nämlich die des Lichts: So, wie weißes Licht sämtliche Farben enthält, enthält weißes Rauschen sämtliche Frequenzspektren – auch die hohen Frequenzen. Man kennt dieses Geräusch von früher, wenn im Fernsehen KEIN Programm lief und das bekannte “Schneegestöber” am Bildschirm von einem lauten Rauschen begleitet wurde. Filtert man gewisse Frequenzen aus dem weißen Rauschen heraus, erhält man verschiedene Frequenzspektren, die je nach persönlicher Disposition als stressig oder angenehm empfunden werden – und diese werden mit verschiedenen Farben bezeichnet.

Rosa Rauschen: Pink Noise ist seit einigen Jahren das beliebteste Frequenzspektrum: Zum weißen Rauschen gesellt sich hier ein relativ prägnanter Basssound, der die hohen, “zischelnden” Spitzen abmildert. Regen ist ein perfektes Beispiel für rosa Rauschen; wegen seines beruhigenden, unaufdringlichen Klangs wird Pink Noise deswegen auch gerne zur Beruhigung schreiender Babys, aber auch für Menschen mit Einschlafproblemen und andererseits für Studierende zur Förderung der Konzentration empfohlen. ³

Braunes Rauschen: Brown Noise hat noch weniger Höhenanteile, wobei hier die tiefen und mittleren Frequenzen ungefähr gleich intensiv sind. In der Fachliteratur ist “Brown” übrigens keine Farbzuordnung, sondern kommt von “Brownian Motion”, benannt nach einer spezifischen Art in der sich Partikel in einer Flüssigkeit bewegen. Braunes Rauschen erinnert am ehesten an starken Wind oder an das Geräusch, wenn große Wellen eines Ozeans heranbranden.

Blaues Rauschen: Blue Noise sei hier nur der Vollständigkeit halber genannt; hier sind nämlich ausschließlich hohe Frequenzanteile enthalten. Man verwendet dieses Spektrum zum Beispiel in Aufnahmestudios, um etwaige Übersteuerungsspitzen eines aufgenommenen Songs im Nachhinein abzurunden.

Grünes Rauschen: Durch die hauptsächlich mittleren Frequenzanteile wird Green Noise gerne zur Simulation von Umgebungsgeräuschen in der Natur verwendet.

Graues Rauschen: Das ist das Spektrum, mit dem sich euer Bloghost am wohlsten fühlt; hier kommen hauptsächlich tiefe Frequenzen zum Einsatz. Das ist der Sound riesiger Ventilatoren, wie sie in der Industrie verwendet werden. Musikalisch ist Grey Noise essentiell für die Komposition sogenannter Drones.


Ein rein theoretisches Konzept ist übrigens “Black Noise”: Die Abwesenheit sämtlicher Signale würde totale Stille bedeuten – etwas, das auf der Erde nirgends möglich ist (ich habe im ersten Artikel der ASMR-Serie darüber geschrieben).

Mit dieser groben Einteilung sollte es für den neugierigen Hörer also möglich sein, den perfekten Lärm für sich zu finden. Was man damit anstellt (den Tinnitus maskieren, leichter einschlafen, sich besser konzentrieren können etc.) bleibt jedem selbst überlassen. Für die im vorigen Artikel beschriebene Pareidolie, die recht spannende Audiophänomene wie Stimmen und “geisterhafte” Musik auslösen kann, empfehle ich eine Kombination aus verschiedenen Sounds und zur Empfindungssteigerung den Genuss diverser rauschhafter Substanzen.


***

¹ https://de.wikipedia.org/wiki/Autonomous_Sensory_Meridian_Response

² Antenne Düsseldorf: Fünf für Herbert Grönemeyer

³ http://time.com/4694555/pink-noise-deep-sleep-improve-memory/

Mittwoch, 8. August 2018

Musik aus dem Ventilator.


In irgendeiner Zeitung hab ich kürzlich gelesen, dass durch die konstante Erwärmung auch die Lärmbelästigung durch Klimaanlagen und Ventilatoren zunimmt – es summt, brummt, klirrt und weht überall. Laut diesem Artikel wären die Menschen durch diese Lärmbelästigung zusätzlichem Stress ausgesetzt und würden sich nichts sehnlicher als Stille wünschen. Das Problem: Stille ist ein rein theoretisches Konzept, im echten Leben kommt sie nicht vor. Das kann man in sogenannten “schalltoten” Kammern (richtiger: “reflexionsarmen Räumen”) feststellen, wie es sie zum Beispiel an der Uni Wien und vielen weiteren Universitäten gibt.

John Cage im "Anechoic Chamber", Harvard (1951)
Ein solcher Raum namens “Anechoic Chamber” an der Harvard-Universität wurde 1951 vom berühmten Komponisten John Cage besucht. Was er in diesem wohl stillsten Raum der Welt hörte, ließ er sich hinterher erklären: einerseits das Rauschen seines eigenen Blutes und andererseits das hohe Sirren seines Nervensystems. ¹ Selbst in einem schalltoten Raum kann man also nicht von absoluter Stille sprechen. Diese Erfahrung prägte nicht nur seine musikalische Philosophie (und führte letztendlich zu der legendären Komposition 4’33) – bis in die letzten Jahre seines Lebens ließ sie Cage den Straßenlärm unterhalb seines New Yorker Apartments nicht nur stoisch ertragen, sondern zu einer ständigen Inspirationsquelle werden: “Wherever we are, what we hear is mostly noise. When we ignore it, it disturbs us. When we listen to it, we find it fascinating”. ²


4’33 weist da ganz exemplarisch den Weg. Dieses heute noch sehr kontrovers rezipierte Werk Cages besteht ja bekanntlich darin, dass ein Konzertpianist während der Aufführung den offenen Klavierdeckel zuklappt, eine Stoppuhr startet, und dann exakt vier Minuten und 33 Sekunden NICHTS tut. Was Cage damit bezweckte: Wenn wir innerhalb einer gewissen Zeitspanne gezwungen sind, auf unsere Umgebungsgeräusche zu hören, können wir mit diesem Material unsere eigene “Musik” komponieren – die besteht in dem Fall der vorliegenden Konzertsituation aus dem Wispern, Rascheln, Murmeln und Sesselrücken eines höchst irritierten Publikums. Das ist übrigens auch eine wunderbare Übung, die in manchen Einführungen zum Thema “Komposition” empfohlen wird: Man nehme eine gewisse Situation am Tag (zum Beispiel während eines Spaziergangs, auf dem Weg zur Arbeit) und höre in dieser Zeitspanne genau auf die Umgebungsgeräusche – ein bisschen Fantasie vorausgesetzt, lassen sich diese Geräusche im Kopf zu einer richtigen Symphonie zusammensetzen.

*** 

Damit zurück zu den rauschenden Ventilatoren: Wenn man den Ärger über die Lärmbelästigung aufgibt und versucht, dem Klang dieser Maschinen einmal ganz vorurteilsfrei zu lauschen, wird man erstaunt sein, was man da alles so hört: viele Arten von unerwarteten Geräuschen, seltsame Musik, menschliche Stimmen und mehr. Das kann zwischendurch auch ganz schön irritierend werden.

 

Der Grund dafür liegt in der sogenannten Clustering-Illusion, die laut Definition “die menschliche Eigenschaft beschreibt, zufälligen Mustern, die in ausreichend großen Datenmengen zwangsläufig vorkommen, Bedeutungen zuzuschreiben.” ³ Eine Variante davon ist die sogenannte Pareidolie – die zweifelhafte Fähigkeit unseres hyperaktiven Gehirns, in solchen für uns ungeordneten Umgebungen sofort eine gewisse Art von Sinn zu erkennen. Hat nicht jeder schon einmal in den Unregelmäßigkeiten einer Mauer ein Gesicht gesehen? Das Erkennen von Gesichtern in zufälligen Strukturen ist ein perfektes Beispiel für die Pareidolie und kann wie im Falle des “Marsgesichts” sogar als Schlagzeile um die Welt gehen. Die Pareidolie ist außerdem als Erklärung für so gut wie alle “Geisterfotos” zu gebrauchen, die im Internet kursieren und nicht sowieso absichtlich gefaked sind.


Das Ganze funktioniert natürlich auch auf der Ebene des Hörens: Auch hier versucht unser Hirn, aus den ungeordneten Mustern eines Geräuschs etwas uns Bekanntes herauszufiltern – das reicht dann von den vorhin beschriebenen leichten Audiohalluzinationen über die von übernatürlichen Kräften empfangene “Himmelsmusik” bis hin zu den “Toten”, die aus dem Jenseits zu uns via Radio sprechen oder zu den sogenannten “Reversals”, die man beim Rückwärts-Abspielen populärer Songs entdeckt haben will. Die von Esoterikern und Verschwörungstheoretikern zugeschriebenen Bedeutungen dieser Phänomene lassen sich übrigens ganz leicht entzaubern: Wenn man nicht vorher schon mitgeteilt bekommt, was man hören wird (eine zwingende Praxis in solchen Kreisen) und das Hirn dann diese Interpretation brav bestätigt, wird man nur das hören, was diese angebliche Phänomene wirklich sind – eine rein zufällige Anordnung von Geräuschen.


Es gibt übrigens bei der beschriebenen Pareidolie auch eine enge Verwandtschaft zur sogenannten Apophänie – einem Symptom der Schizophrenie, bei dem die Wahrnehmungen in zufälligen Mustern beginnen, eine persönliche Bedeutungsebene anzunehmen. Wenn das der Fall ist, wird es jedenfalls höchste Zeit, etwas für die geistige Gesundheit zu unternehmen. Wir kennen alle den einen oder anderen tragischen Fall, in dem einem psychisch kranken Menschen “persönliche Botschaften” über das Radio, TV oder andere Medien übermittelt werden; in fast allen Fällen ist das ein relativ sicheres Zeichen für eine Psychose.


Das soll uns jedoch nicht davon abhalten, schöne Musik aus Ventilatoren zu hören. Zumindest den Stresslevel bezüglich Umgebungslärm kann man so wunderbar abbauen oder verringern. In der Tat gibt es da schon eine richtige Industrie, die sich die Phänomene ASMR und White Noise einverleibt hat – aber das ist Thema des nächsten Teils, den ihr in Kürze auf meinem Blog lesen könnt.

***

¹ John Cage and the anechoic chamber.

² John Cage, Silence: Lectures and Writings, Wesleyan 50th Anniversary Edition, 2013

³ https://de.wikipedia.org/wiki/Clustering-Illusion

Montag, 6. August 2018

Super Ape!


Reggae und sein wunderbarer Zwillingsbruder Dub sind für uns Stoner ja sowas wie eine ständige Offenbarung. Zu den lieblichen Messages von Friede und Liebe und dem Lobpreis des Ganjas gesellt sich dieser unwiderstehliche karibische Laidback-Rhythmus; und bei vielen Reggae-Produktionen auch soundtechnische Experimente, die unser High engültig in schwindelerregende Höhen treiben. Unter all den wunderbaren Produzenten (von Prince Jammy bis Scientist) ist das Werk von Lee “Scratch” Perry natürlich the REAL real thing. Der seit vielen Jahren in der Schweiz angesiedelte Jamaikaner ist inzwischen stolze 82 Jahre alt, seiner Kreativität und seinem (wohldosierten) Wahnsinn tut das aber selbstverständlich keinen Abbruch.

Perrys Output ist bekanntlich ein Fass ohne Boden; in diversen sozialen Medien führen die Diskussionen über seine besten Werke regelmässig zu leidenschaftlichen Streitgesprächen. Euer Bloghost hier verehrt ganz besonders die Werke, die mit Kung Fu (inspiriert von Bruce Lee-Filmen ) und King Kong zu tun haben. Der heißgeliebteste Monsteraffe der Popkultur wird bei Perry zum Super Ape und hat für drei Releases gesorgt, die ich hier in aller gebotenen Kürze angemessen lobpreisen möchte.

Super Ape (1976, Island Records)

1976 war ein wirklich gutes Jahr für Perry: Die von ihm produzierte Max Romeo-Single “War in a Babylon” war dermassen erfolgreich, das sie ihm das Tor zum erfolgreichen Label Island Records öffnete. Die damit einhergehenden finanziellen Mittel wurden gleich für neues Equipment und eine Einspielung investiert, die den Meister auf der Höhe seines Könnens zeigt. Perrys “Hausband” The Upsetters spielte und sang insgesamt zehn Tracks ein, die anschließend die besondere Behandlung durch das Mischpult und die Effekte des Mixmasters erfuhren. Super Ape ist eines der interessanten Beispiele, wie ein spezielles Studio für einen Klang sorgt, den man jederzeit und überall identifizieren kann: Das Black Ark-Studio von Perry klingt nach einem dicken, superbequemen fliegenden Teppich, der den geneigten Stoner mittels unglaublicher Halleffekte in alle möglichen und unmöglichen Ecken eines unendlichen Klang-Multiversums transportiert. Und nebenbei ist die Musik so unglaublich entspannt und doch so groovy. Höchst infektiös!


The Return of the Super Ape (1978, Cleopatra Records)

Der Nachfolger von Super Ape beginnt mit einem süßen, kleinen Liedchen (”Dyon-Anaswa”), von dem man sich aber nicht täuschen lassen sollte, den bereits der zweite Track taucht uns ganz tief in psychedelische Gewässer. Es grunzt, es muht, es dampft, zischt, es brodelt. Immer wieder tauchen sinistre gesprochene Botschaften des Meisters auf, vermutlich nicht für menschliche Zuhörer bestimmt, sondern als keynote adress an die vielen bösen Dämonen, die Mr. Perry ja immer in Schach halten muß. Das scheint allerdings leider nicht gereicht zu haben, denn bald nach der Aufnahme von “The Return of the Super Ape” hat er dann sein Black Ark Studio niedergebrannt (weil es von Satan infiziert war).


Super Ape Returns To Conquer (2017, Subatomic Sound)

41 Jahre nach dem Release von Super Ape kehrt der inzwischen über 80-jährige Lee Perry zu seinem Originalalbum zurück, und er tut das auf sehr originelle Weise. Das Subatomic Sound System aus New York (das ja schon länger als Backing Band bei seinen Liveauftritten fungiert) hat die Tracks aus dem Originalalbum neu eingespielt (incl. damals unveröffenlichter Tracks, Skizzen, Ideen etc.), und Perry hat zusammen mit dem Produzenten Emch in seinem New Ark-Studio in Jamaica die finalen Akzente gesetzt - sehr sparsam, muß man löblicherweise bemerken, seine doch schon etwas wacklige Stimme wurde nur ganz gezielt verwendet. Die Irritation über diese supercleane, digitale Produktion muß man erstmals überwinden; dann versteht man aber, das dies ein grandioser Weg ist, die Magie des Super-Affen in das 21. Jahrhundert zu überführen. Super Ape wird ewig leben!


***