Freitag, 26. Oktober 2018

The Orb - Orbus Terrarum.


Lass uns kurz zurückblicken auf das Rave-Zeitalter Großbritanniens: Dessen grosse Zeiten sind zwar lange vorbei, immer noch aber existieren die drei grossen Institutionen Underworld, Orbital und The Orb, die auch heute noch die Stadien auf der Insel füllen. Underworld machten sich mit dem Titelsong “Born Slippy” für Danny Boyles “Trainspotting” unsterblich und sorgten mit den extralangen Versionen ihrer Technohymnen für Ekstase bei eurem Bloghost, bevor mein Interesse über die Jahre langsam, aber stetig nachliess - zu harmonisch, zu stromlinienförmig war mir ihre Musik dann irgendwann geworden.  

Und Orbital habe ich ganz ehrlich niemals verstanden: Da waren diese zwei Typen mit ihren damals schon nicht mehr so richtig coolen Brillen mit eingebauten Strahlern (die sie bei Auftritten übrigens heute noch tragen) und machten Musik, wie sie oberflächlicher und durchschaubarer nicht sein könnte. Selbst das in den 1990er-Jahren in der Dance Music so beliebte und verkaufsträchtige “Ambient-IDM-Drogen-Mystik”-Etikett, welches sozusagen auch auf den Releases von Orbital klebte, konnte mir diese dünne, vorhersehbar auf Mitgröhl-Hymnen getrimmte Rave-Suppe nicht schmackhaft machen.

The Orb zur Zeit von "Little Fluffy Clouds" (Foto von soundonsound.com)
The Orb nahm ich überhaupt nicht wahr, weil ich die damals einfach mit Orbital verwechselte. Aber ihr kennt das ja sicher, wenn man sehr spät auf etwas stösst und es dann “so richtig im Gebälk raschelt” - genau das war meinerseits bei The Orb der Fall. Entdeckt habe ich die erst über Produzent Thomas Fehlmann, dessen Release “Honigpumpe” 2007 bei mir für endlose Begeisterung sorgte - selten habe ich “Techno” so warm, organisch und individuell wahrgenommen. Beim Stöbern nach anderen Releases des Schweizer Altmeisters kam ich dann natürlich auf Alex Paterson, dessen Partner in The Orb Fehlmann seit den 1990er-Jahren immer wieder war (aufgeführt in den Liner Notes der entsprechenden Releases als “Floating Member”).

The Orb (Foto von thequietus.com)
The Orb als “Projekt” und sämtliche Releases sind ein rhizomatisches Konstrukt, wenn ich diesen Begriff (wie in meinen Artikeln über Legowelt) wieder einmal verwenden darf - hierarische Bandstrukturen oder ein klar umrissener musikalischer Style sind schwer zu definieren, was daran liegt, daß Gründungsmitglied Alex Paterson The Orb immer offengehalten hat; als kollaboratives Projekt, in dem durchaus auch er selbst hinter die rasch wechselnden Mitmusiker zurückgetreten ist. Die ständig wechselnden Produktionsmethoden und grundsätzliche stilistische Aufgeschlossenheit (brennende Neugier, wie es manchmal scheint) machen The Orb zu einer Quelle ständiger Überraschungen für den Zuspätgekommenen, der das gewaltige Werkverzeichnis im Nachhinein erschliessen will.

Alex Paterson und Thomas Fehlmann (foto von dublab.com)
“Orbus Terrarum”, der dritte Studiorelease aus dem Jahr 1995, geht weiter als alles, was The Orb zuvor und später je gemacht haben. Jeder einzelne Track ist mit einer Bootsreise auf einem Fluss zu vergleichen. Drumloops, atmosphärische Pads und Sprachsamples verdichten sich zu Songs, hinter der nächsten Biegung aber lösen die sich sofort wieder auf. Als Passagier dieser Nussschale sollte man sich ja nicht zu sehr in Sicherheit wiegen - der ruhig dahinfliessende Strom kann jederzeit blitzschnell zu einem reissenden Monster werden. Und daß The Orb Jahre später mit der Dub-Legende Lee “Scratch” Perry kollaboriert haben (siehe meinen Artikel hier), versteht man bereits, wenn man die frühen Releases hört - da jagen und multiplizieren sich die Echo- und Hallfahnen, daß es eine reine Freude ist.

Der Klick auf das Video öffnet rechts daneben die gesamte YT-Playlist.

“Orbus Terrarum” galt zu seinem Erscheinen in der britischen Presse als Totalflop, als Aberration - der Verzicht auf das von determinierten Hörgewohnheiten Erwartete liess Fans und Kritiker auf der Insel total ratlos zurück. Anders in den USA: Der Rolling Stone wählte “Orbus Terrarum” damals zur Platte des Monats ¹. Ganz klar, die extralangen Songs verlangen dem geneigten Hörer einiges ab; die Architektur erkennbarer Strukturen ist größtenteils verhüllt. Doch das inhärente Versprechen von Bands wie The Orb, ihr Publikum an unbekannte Sound-Gestade zu katapultieren, wurde niemals konsequenter eingelöst als hier. Ich möchte auf keinen Fall irgendwelche ausgelatschten Stoner-Klischees bemühen, in vorliegendem Fall bleibt mir aber einfach keine Wahl: Ja, das ist Musik, gemacht von Stonern für Stoner. Wenn man sich in einen veränderten Bewusstseinszustand begibt, öffnet man sich für ein größeres Soundfeld - und an diesen Grenzen zum Unendlichen operieren The Orb und öffnen Passagen in bisher unbekannte Realitäten.

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Kauft euch “Orbus Terrarum”! Ich würde übrigens dringend zu der 2008 erschienenen “Remastered und Expanded Edition” raten, einfach deswegen, weil da noch viel mehr dieser genialen Musik enthalten ist. Kann man über die Homepage von The Orb bestellen.


¹ Kritik im Rolling Stone 200495 (Web Archive)

Sonntag, 21. Oktober 2018

Grenzgänger.

Das Wort “Grenzgänger” gefällt mir gerade in der heutigen Zeit ziemlich gut - wenn nämlich alle Staaten am liebsten ihre Grenzen schliessen möchten, um ihre illusionären “Festungen” zu beschützen, ist es wichtiger denn je, Grenzen zu überqueren, offen zu sein für neue Kulturen, Ansichten oder Erkenntnisse.


Der Begriff bezeichnet in Wahrheit die sogenannten “Grenzpendler”, die in einem Land leben und im angrenzenden Land arbeiten; allerdings auch im übertragenen Sinn jemanden, der sich zwischen verschiedenen “Bereichen, Feldern oder Konzepten bewegt.” ¹ Und da sind wir schon wieder bei meinem derzeitigen Lieblingsthema Dub angelangt; denn hier gibt es ein paar prägnante Künstler, die alle Merkmale dessen mit anderen Musikstilen verbunden und vermischt haben - das Ergebnis ist eine absolute Bereicherung für den neugierigen Hörer, so wie euer Bloghost ja einer ist.


Starten wir unser kleines Showcase zum Thema mit einem kanadischen Ausnahmetalent namens Ryan Moore. Der Multiinstrumentalist und Studio-Wizard wurde in den 1980er-Jahren in London vom Dub-Virus infiziert, wurde zum leidenschaftlichen Dubplate-Sammler und experimentierte auch schon damals mit ersten eigenen Tracks. Moore war Schlagzeuger und Bassist in einer der profiliertesten und spannendsten experimentellen Psychedelic-Bands Europas - den Legendary Pink Dots, bevor er seine Karriere als Sideman mehr oder weniger an den Nagel hängte, um sich ganz seiner allergrössten Leidenschaft, dem Dub zu widmen.


1995 erschien dann der erste Release als “Twilight Circus”; unter diesem Namen hat Moore bis heute 28 (!) Alben veröffentlicht (ganz abgesehen von den unzähligen Singles und 10-inches), hat mit zahlreichen wichtigen Reggae-Produzenten und -Sängern kollaboriert und ist als Produzent u.a. von Michael Rose und Ranking Joe in Erscheinung getreten. Stilistisch ist der Twilight Circus jenen zu empfehlen, die es im Dub schwer und langsam mögen: Die dick verhallte Atmosphäre mit den fetten Drumbeats und den ultratiefen Basslines erinnert an den leider kurzlebigen Illbient - konsequenterweise war Moore auch auf einem der drei Crooklyn Dub-Sampler auf Wordsound vertreten. ²


Die Stilvielfalt Moores geht zwar nicht ganz so weit wie die abenteuerlichen Produktionen Adrian Sherwoods auf On-U Sound-Records, aber man merkt natürlich die Vergangenheit bei den Legendary Pink Dots; konsequenterweise hat Moore auch 2013 mit deren Sänger Edward Ka-Spel gemeinsam ein sehr experimentell gehaltenes Album aufgenommen (Edward Ka-Spel Meets Twilight Circus - 800 Saints In A Day).



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Von Kanada reisen wir im Ganjamobil nach England: In London sitzt dort Mike Pelanconi (besser bekannt unter seinem Pseudonym Prince Fatty) in seinem Studio und produziert seit Jahren wunderbare kleine Dub-Perlen (u.a. mit Hollie Cook, dem Drunken Gambler und Mungo's Hi-Fi); unvergesslich und heissgeliebt auch seine Coverversionen diverser Hip Hop-Klassiker wie “Gin and Juice” oder “Insane in the Brain”. Prince Fatty ist einer, der die klassischen, jamaikanischen Dub-Merkmale mit Präzision,Geschick und viel Liebe zum Thema in die heutige Zeit geholt hat. Dass er aber noch zu ganz anderen Großtaten am Rande des Dub fähig ist, beweist die grandiose Kollaboration mit dem ebenfalls in London beheimateten postmodernen Jazz-Kollektiv Nostalgia 77 rund um Produzentengenie Benedic Lamdin.


Der daraus resultierende Release “In the Kingdom of Dub” (2014) ist ein wahres Crossover-Wunder: Funky Jazz wird hier veredelt durch sparsam eingesetzte, aber unglaublich wirkungsvolle Hall-Fahnen. Schimmernde E-Piano-Läufe wechseln sich ab mit grell aufblitzenden Bläsersätzen und kurzen, rauchigen Klangtupfern eines Tenorsaxophons; dazwischen locken immer wieder ganz bewusst eingesetzte Ruhepunkte, bevor der Cosmic Jazz-Train wieder Fahrt aufnimmt in die nächste Echokammer. Stellenweise erinnert das sogar an diverse Releases auf Brainfeeder, dem Label des ingeniösen Alice Coltrane-Enkels Flying Lotus.



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Damit wieder einmal zu dem wahnsinnigen Universalgenie Lee “Scratch” Perry. Dessen “neuere” Karriere ist zugegebenermassen recht... gewöhnungsbedürftig; viele meiner Kollegen wie der hochgeschätzte René Wynands, der das für Fans unverzichtbare Dubblog betreibt, stehen sogar auf dem Standpunkt, Perry habe seit den 1980er-Jahren nichts mehr wirklich hörenswertes herausgebracht. Natürlich ist Perry als “Sänger” eine Zumutung und man vermisst seine geniale Produzententätigkeit früherer Zeiten immer wieder schmerzlich; wenn sich der über 80-Jährige aber in die richtigen Hände begibt, kann daraus aber durchaus auch noch heute ein richtiges Juwel entstehen.


Ich beziehe mich hier speziell auf ein “Randprodukt” namens “The Orb Featuring Lee Scratch Perry: Present The Orbserver In The Star House” aus dem Jahr 2012: Die beiden Electronica-Legenden Alex Patterson und Thomas Fehlmann haben darauf das Experiment gewagt, mit der Dub-Legende eine gemeinsame Platte aufzunehmen. Sie gehen dabei extrem klug vor und verwenden Perry nur als Samplequelle, um die herum sie die von The Orb gewohnten trancigen Beats gebaut haben. Während Wynands urteilt: “Die elektronischen Orb-Beats und Perrys scharfer, weitgehend melodiefreier Gesang harmonieren wie Apfelkuchen und Tabasco – nämlich gar nicht” ³, halte ich es eher mit Rick Anderson von allmusic.com: “The approach is dubwise, but the result is unique -- it simultaneously pushes familiar musical buttons and sounds like nothing else that has come before. Listening to this album is a bit like eating comfort food from an alien planet”. ⁴


Meiner bescheidenen Meinung nach ist das Resultat dieser Kollaboration einfach unwiderstehlich. Thomas Fehlmann hat ja das gottgegebene Talent, elektronische Songs mit absolutem Suchtfaktor zu basteln (man denke nur an “Honigpumpe”) und so ist man selbst bei so banalen Weisheiten Perrys wie “If you're thirsty, drink some water” irgendwie ergriffen, weil die Musik dazu einfach so wunderbar herzlich swingt! The Orb selber scheinen sich des Endresultats allerdings auch nicht ganz sicher gewesen zu sein, da sie bald darauf eine weitere Version des Albums herausgebracht haben, auf dem auch sämtliche Tracks auch als Instrumentalversionen enthalten waren. Das finde ich unnötig, weil hier einfach etwas fehlt (Perrys Gebrabbel nämlich) aber dafür finden sich auf der “In Dub”-Version wiederum tatsächlich auch sehr schöne Dub-Remixes von Deadbeat und Mad Professor.



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Freitag, 19. Oktober 2018

Cosmic Disco.

Ein Artikel in der Zeitschrift Electronic Sound über das unter älteren Geeks immerdar beliebte Thema “Space Music”, also die Beeinflussung diverser Musikstile durch Science Fiction, hat mich in meiner Fantasie plötzlich an einen wunderbaren Ort versetzt: Nach Rimini!

Es ist ein heisser Sommer in Italien im Jahr 1980, ungezählte schwabbelige, weiße Bäuche und Busen aus Deutschland und Österreich quetschen sich wie Sardinen auf den Liegestühlen am Sandstrand, es riecht nach Salz und billigem Sonnenöl. Überall schmilzt und tropft Softeis, aus kleinen Radiolautsprechern und in den Kopfhörern der quietschbunten Walkmans plärren Songs über unsterbliche Amore. Die Jugendlichen haben sich in die Spielhalle verzogen, dort wird eifrig an diversen Automaten Space Invaders, Asteroids, Defender oder Pac Man gedaddelt. Und am Abend, wenn die ältere Generation dann ihren Sonnenbrand mit Spaghetti und viel billigem Rotwein kühlt, trifft man sich in einer der vielen Discotheken zum Tanz und zum Verlieben.


In Rimini wird in diesem Jahr tatsächlich Dancefloor-Geschichte geschrieben. Ein neuer Style ist am Entstehen, und das schwitzende Kind wurde auch schon getauft: “Cosmic Disco”; ein hochtrabender Begriff, der zeigen soll, wie ernst junge, erfolgshungrige Discjockeys wie Daniele Baldelli, Beppe Loda, DJ Mozart oder DJ Rubens ihr Metier nehmen. Hier werden nicht die neuesten Discohits aus Amerika abgenudelt. Im Gegenteil: “Eines der wichtigsten Elemente dieses Old-School-Cosmic war der Gedanke der Komposition im Sinne der klassischen E-Musik. Damals erarbeiteten die DJs für jeden ihrer Auftritte eigene einstündige Kompositionen, die ähnlich wie in der klassischen Komposition ein Opening, Steigerungen, Höhepunkte und ein Finale enthielten. Die „Instrumente“ waren dabei Sound-Versatzstücke, das Auflegen eher ein „Komponieren“ im Vergleich zum heutigen Recycling eigener Re-Mixes.” ¹

Daniele Baldelli in seiner "Cosmic DJ Booth", 1980
Die stilistischen Elemente sind vielfältig - von (Afro-)Funk, Soul und US-Disco über Electronica, Krautrock, Jazz und sogar klassischer Musik wird alles verwurstet, was nur einigermassen groovy zu machen ist. Interessant an "Cosmic Disco" finde ich aber vor allem die unglaubliche Langsamkeit: Mehr als 90 -100 Beats per Minute sind einfach nicht drin, das ist noch gemütlicher als House. Aber nicht nur deswegen gilt dieser Stil heute schon als Outsider Music. Es mag auch daran liegen, das die “Kunst” aus Cosmic Disco sehr schnell wieder verschwand, und dem üblichen Motto aller Discotheken an diversen Ferienorten, “Feiern, Tanzen, Saufen”, Platz machen musste. So blieb der Siegszug in Richtung ganze Welt und dann auch Universum irgendwo zwischen Norditalien und Südtirol stecken und wich schnell dem viel prosaischeren Italo House.


Erschwerend kam noch hinzu, daß damals im Rest Europas plötzlich alles an tanzbarer Musik ebenfalls kurzfristig irgendwie zu “Space” wurde. “Space Disco” ist zwar als eigener Stil schwer festzumachen, als Einfluß auf unzählige, damalige Produktionen von Ganymed bis Boney M. aber essentiell. So ist Cosmic Disco also heute eine Nische, nach der man aktiv suchen muß. Hin und wieder findet man Daniele Baldelli als DJ auf diversen Groß-Events; und wenn der Altmeister einen guten Tag hat, groovt er immer noch sehr kosmisch, auch wenn das anwesende Publikum nicht so recht zu wissen scheinen, ob man sich bei dieser immer noch konsequent langsamen Musik auch bewegen soll, oder doch lieber ein Bier trinken gehen.

  DJ-Set von Daniele Baldelli, umrahmt von zwei italienischen Grazien.

Zum Abschluß noch ein Disclaimer in eigener Sache: So einen Urlaub in Rimini habe ich nie selber erlebt - unsere damals streng katholische, strikt auf Sparsamkeit ausgerichtete Familie fuhr immer nach Kroatien, in damals noch touristisch kaum erschlossene Ferienorte. Statt Sandstrand, Softeis, Comics vom Kiosk, Spielhallen und Discos mit hübschen Mädchen in die man sich unsterblich verlieben konnte gab es bei dort nur sterbenslangweilige Fischerorte mit alten Frauen, die versonnen ihr Spinnrad betätigten. Und spitze Steine, Spinnen, Skorpione und Fischgerichte mit viel Gräten. Vermutlich werde ich wegen dieser Sehnsucht nach verpassten Gelegenheiten meiner Jugend noch immer vollkommen manisch, wenn ich nur die Titelmelodie von Captain Future höre.


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   Daniele Baldelli auf Mixcloud.